Wie viel Erkenntnis gab es im Paradies?

Ralf Bauer-Mörkens
Adam und Eva im Paradis
© Getty Images/iStockphoto/ilbusca

Sehr geehrte Bibelforscher, 

folgende Aussage habe ich bis heute nicht verstanden: Gen 2,17 "Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben." Es bedeutet für mich, dass der paradiesische Zustand nur dann gesichert war, wenn keine Erkenntnis über gut und böse existiert hat, also ein Leben mit begrenzter Erkenntnis, denn wenn Gott Adam und Eva mit freiem Willen ausgestattet hat, muss - um sich entscheiden zu können auch Erkenntnis vorhanden sein. Oder geht es im Sündenfall nur um Strafe weil der Gehorsam ignoriert wurde ? Gilt dann das Loskaufopfer Jesu trotzdem auch für Adam und Eva ? 

Alles Gute wünscht Ralf Bauer-Mörkens

Sehr geehrter Herr Bauer-Mörkens,

Ihre Frage erreicht natürlich keine wissenschaftlichen Bibelforscher, die Ihnen die neusten Erkenntnisse des theologisch-exegetischen Diskurses der Gegenwart referieren können. Ich bin, wie meine Kolleginnen und Kollegen hier, evangelischer Pastor und freue mich über Ihre Frage. 

Wenn die Schöpfungsgeschichte im Konfirmandenunterricht an der Reihe ist, protestieren viele der jungen Leute, sie empfinden Gottes Gebot als Einschränkung, also unfair. Ich antworte den Jugendlichen: "Die beiden Menschen im Paradies verfügen über alle nur denkbaren Möglichkeiten. Sie können sich frei entfalten, gehen zwischen den Bäumen spazieren und wählen gemütlich die köstlichsten Früchte aus. Für sie gilt nur eine einzige, winzige Ausnahme, sie dürfen einen einzigen der unzählig vielen Bäumen nicht anrühren. Wo ist das Problem? Ein Baum verboten, alle anderen erlaubt? Dieser Baum steht allerdings in der Mitte und die Früchte glänzen, den Menschen läuft das Wasser im Munde zusammen." In diesem Moment wissen viele Jugendliche, was gemeint ist. "Ich würde auch mal probieren wollen", sagt jemand. Verbote verfügen über magnetische Kräfte und ziehen selbst unschuldige Charaktere in ihren Bann. "Gemein von Gott", sagt eine Jugendliche und ich sage: "Nein, nicht gemein, es sind genug andere Bäume. Ihr Glück und ihr Überleben hängt nicht von dem einen, verbotenen Baum ab." Die Freiheit im Garten Eden ist nicht eingeschränkt. Und selbst dann, wenn die Menschen in diesem Garten Gut und Böse unterscheiden könnten, sie wären hier nicht zufriedener oder unzufriedener. 

Im Ernst: Hat Gott den Menschen tatsächlich so erschaffen, dass er keine Erkenntnis über Gut und Böse hatte? Zweifellos wäre damit ein beneidenswerter Urzustand beschrieben, der hier in Gen 2,17 anklingt. Wenn es nicht nötig und möglich ist, zwischen Gut und Böse entscheiden zu müssen, dann verdient dieser Zustand zu Recht das Prädikat "paradiesisch". Gerade in der Genesis steht dieses Nichtwissen für die Nähe, die Gott seinen Geschöpfen gewährt. Und: Wir hätten heute deutlich weniger Probleme, wäre dieser paradiesische Urzustand geblieben. 

Auf den ersten Blick geht es in Genesis 2,17 nicht um eine naive Unkenntnis, die Unterscheidung zwischen Gut von Böse wird ursprünglich nicht benötigt. Grund: Gottes Nähe setzt das Gut-Böse-Spiel außer Kraft. Leider konnten die beiden Menschen den Baum nicht in Ruhe lassen. Schade. 

In einer Überlieferung dieses Textes war der Baum gemeint, der die Mitte, das geografische Zentrum des Gartens markiert. Dieser Baum wurde durch eine andere Überlieferung zum Lebensbaum und dann auch als der Weltenbaum interpretiert. In der Forschung wird erörtert, dass hier möglicherweise zwei oder sogar drei unterschiedliche Bäume aus verschiedenen Erzähltraditionen und religiösen Zusammenhängen zu einer Erzählung verschmolzen sind. In Genesis 2,17 scheinen sich die alten Überlieferungen geradezu zusammenzuballen. 

Sicher ist, dass der Mensch, der den Weltenbaum berührte, an der göttlichen Weisheit Anteil bekam. Das wurde für den Gott, der diesen Garten erschaffen hat, gefährlich. Ein Mensch, der sich verbotenerweise göttliche Einsichten verschaffte, musste sterben. Gott erscheint hier - in alten Traditionen alter Kulturen - als eifersüchtiger Gott. Aber in der Genesis wird trotz der Drohung in Genesis 2,17 keine Strafgeschichte erzählt. Im Gegenteil: Nach der Übertretung des Gebotes wird statt der angekündigten Todesstrafe nur die Ausweisung aus dem Garten verhängt. Die Verpflichtung geht an den Menschen, der muss nun selbst seinen Garten und Acker bestellen. Das ist eine Reduktion des höchsten Strafmaßes von Tod auf ein passables und dann gut erträgliches lebenslänglich. Statt auf dem Schafott wird das Leben zur harten Plage auf dem Acker und die Zeit der Schmerzen beginnt auch. 

Also verbindet die Geschichte, die sich um diesen Baum rankt, unterschiedliche Überlieferungen und erzählt, wie die von Gott erschaffene, gute Welt nun die Unterscheidung des Guten vom Bösen kennenlernt. Es beginnen Neid, Eifersucht, Unterdrückung, Angriffskrieg, Dürre, Hunger, Krankheit, Tod, Heimatlosigkeit, es beginnt der Kampf des Glaubens gegen das Böse. Es beginnt aber auch die Hoffnung und die Liebe. Das alles resultiert - so die Genesis - letztlich aus der menschlichen Lust, inmitten des unermesslichen Überflusses die Finger nach dem Verbotenen auszustrecken. 

Dann wird weiter erzählt, dass Gott auf die zunehmende Welle der Übertretungen mit immer neuer Gnade reagiert (Kain erschlägt Abel (Gen 4,1-16), die Welt geht in der Sintflut unter, aber Noah und seine Familie bekommen mit der ganzen Schöpfung eine neue Chance (Gen 6,5-9,17), der Turm zu Babel will Gott erreichen und erneut provozieren  (Gen 11,1-9)). Das, was Sie vielleicht mit "Loskaufopfer" meinen, wird hier als Begrenzung der Strafe erzählt. 

Ich fürchte, dass ich Ihre Frage nicht befriedigend beantwortet habe. Die Jugendlichen fragen jetzt: "Und woher kommt das Böse, irgendwie hat Gott es ja doch zugelassen?" Ich bin dann etwas verlegen und suche dann den Vergleich: "Selbst in den reinsten und schönsten Diamanten, die unter größtem Druck und unvorstellbarer Hitze tief in der Erde entstehen, bilden sich kleinste, kaum sichtbare Verunreinigungen, von so etwas sprechen wir, wenn es um die Lust geht, den verbotenen Baum zu berühren." Es ist absolut unwahrscheinlich, dass Gottes Schöpfung ein Makel anhaftet, wie dann doch - obwohl völlig undenkbar - möglich wird, was unmöglich ist: Sie nehmen von dem einzigen verbotenen Baum.

Herzlich grüße ich Sie, Ihr Henning Kiene 

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