Bisexualität

Annika

Lieber Herr Muchlinsky,
erst einmal vielen Dank für Ihr tolles Beratungsangebot!
Ich selbst habe eine Frage zu Homosexualität. Konkret geht es mir nicht darum, wie ich aufgrund von Bisexualität von der Kirche gesehen werde, sondern darum, wie Gott mich sieht. Das ist ein ernsthaftes Problem für mich.
Ich selbst kann nichts Falsches daran finden, ich finde sogar, dass die Wahl des (Sexual-)Partners eine höchst persönliche Frage ist, die viel mit der eigenen Individualität zu tun hat und in jedem Fall in Ordnung ist, solange man liebe- und respektvoll miteinander umgeht und niemandem schadet. Ich sehe auch keinen biblischen Grund, warum so etwas ein Problem sein soll:
Meines Wissens nach beziehen sich einschlägige Bibelstellen auf Sexualpraktiken, in denen verheiratete Männer ihre Frauen betrügen und mit teilweise minderjährigen Sklaven Sex haben. Es kann darin also auch um Ablehnung von Untreue und unfreiwilligem Geschlechtsverkehr gehen, also um Sexualpraktiken, bei denen man seinen „Partner“ entwürdigt. Dies kam damals wohl häufig zwischen Männern und männlichen Sklaven vor, hat aber nichts mit einer freiwilligen Partnerschaft zu tun, in der man einander achtet.
Und Sünde ist doch die freiwillige Abwendung von Gott, z. B. wenn ich jemanden aus Habgier beraube. Dann habe ich doch aber die Wahl, dies zu tun oder zu lassen. Bei Homosexualität hat man doch aber keine Wahl. Und man kann es auch nicht ablegen, selbst wenn man auf Sex an sich verzichtet, bleibt die sexuelle Orientierung doch vorhanden und Bestandteil der Persönlichkeit. Durch eine heterosexuelle Heirat belügt man doch seinen Ehepartner und verhält sich damit unchristlich. Und kann die Tatsache, nichts daran ändern zu können, nicht auch ein Hinweis Gottes sein, dass es auch nicht geändert werden muss?
Außerdem ist es ja auch so, dass rein körperlich der normale Geschlechtsverkehr mit einer Frau für den Mann zwar erfüllend ist, demgegenüber aber der Geschlechtsverkehr zwischen zwei Männern körperliche Vorteile hat. Da Gott ja den Menschen samt Körper geschaffen hat, frage ich mich, ob es nicht ok ist, auch solche beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr tendenziell eher unüblichen Praktiken zu genießen.
Außerdem ist es ja so, dass z. B. auf mittelalterlichen Sakralbauten oft Bilder sind von den Menschen, die (angeblich) in die Hölle kommen. Dabei sind oft Bilder von Schwulen, nicht von Lesben. Selbstverständlich, das ist mittelalterlich und es ist nicht gesagt, dass diese Bibelinterpretation richtig ist. Es liegt aber daran, dass man damals dachte, der Mann hätte das Kind schon winzig aber fertig in seinem Sperma enthalten und die Frau brütet es in ihrem Körper nur noch aus. Deshalb galt damals schwuler Geschlechtsverkehr Mord, lesbischer Geschlechtsverkehr war jedoch irrelevant, da die Frauen weniger Wert waren und auch zur Fortpflanzung vergleichsweise vermeintlich wenig beitrugen. Daher war es auch egal, was mit ihren Körpern und deren Flüssigkeiten passierte. Und auch in der Bibel gibt es soweit ich weiß keine Lesben.
Deshalb frage ich mich, ob es nicht so ist: Entweder man interpretiert die Bibelstellen und setzt sie dabei auch in ihren historischen Kontext – jedoch nicht um sie zu relativieren sondern um sie richtig zu verstehen. Dabei sollte ja dann das christliche Liebesgebot maßgeblich sein. Dann kommt man meiner Meinung nach dazu, dass Homosexualität nicht schlimm ist. (So, wie man sich auch scheiden lassen darf, Frauen in der Kirche nicht mehr schweigen müssen, etc.) Oder man nimmt es wörtlich. Wenn man das tut, verbietet die Bibel doch aber nur schwulen und keinen lesbischen Geschlechtsverkehr?
Jedenfalls frage ich mich: Liebt mich Gott auch wenn ich bisexuell bin? Vergibt er mir meine Sünden trotzdem? Und wie soll ich mich verhalten?
Viele Grüße und mit Dank
Annika

Liebe Annika,

 

Sie haben anscheinend nicht nur eine Frage, sondern haben auch bereits eine Menge darüber nachgedacht, wie eine Antwort aussehen könnte. Ihre Argumentation kann ich zum großen Teil einfach unterstreichen und bestätigen. Bei der Einschätzung von Sexualität sollte in jedem Fall das Liebesgebot das entscheidende Kriterium sein. Wo immer Menschen miteinander Sex haben, sollte das geschehen, weil beide das wollen und daran Freunde empfinden können. Auch über die beiden hinaus sollte niemand darunter leiden müssen, wenn die zwei Sex haben – Stichwort Untreue und dadurch entstehende Verletzungen.

 

Darüber hinaus ist es unserem Gott sicherlich herzlich egal, was man nun genau macht beim Sex, solange eben dabei die gegenseitige Zuneigung ausgedrückt wird und sich beide daran freuen. Was sie gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Frauen angeht, so schweigt sich die Bibel darüber tatsächlich genauso aus wie noch der berüchtigte Paragraph 175 des deutschen Strafrechts, der erst vor zwanzig Jahren abgeschafft wurde. Lesbische Sexualität kam in der öffentlichen Wahrnehmung einfach nicht vor.

 

Aus Ihren Schilderungen schließe ich, dass Sie mit Ihrer Sexualität sehr bewusst und verantwortungsvoll umgehen. Darum sollte es Ihnen möglich sein, Ihre Sexualität so zu leben, dass Sie in der Tat jemanden lieben und möglichst niemanden verletzen. Wer derjenige ist, mit dem Sie Sex haben, ob Mann oder Frau, spielt dabei keine Rolle. Sexualität kann Liebe in einzigartiger Weise ausdrücken. Tun Sie das! Ich bin geneigt zu sagen, dass Gott sich daran erfreut, aber das klingt mir ein wenig zu sehr nach Gott als Voyeur. Vielleicht eher so: Zu lieben – auch sich körperlich zu lieben – bedeutet, Gottes größtes Gebot zu achten.

 

Sie fragen konkret, ob Gott Ihnen Ihre Sünden verzeiht. Da kann die Antwort nur lauten: Ja, selbstverständlich! Ihre Sexualität ist keine Sünde, aber niemand kann durch das Leben gehen, ohne jemals zu sündigen. Wenn Sie das Gefühl haben, wirklich etwas Falsches getan zu haben, bitten Sie Gott um Verzeihung dafür und möglichst auch den Menschen, dem Sie vielleicht etwas angetan haben. Und da Sie ausdrücklich danach fragen, wie Sie sich verhalten sollen, lautet mein Rat: Seien Sie fröhlich und dankbar für die Liebe Gottes und der Menschen.

 

Herzliche Grüße

Frank Muchlinsky