Lieber Herr Pastor Muchlinsky,
ich bin begeistert über Ihre seinerzeitige Antwort an Monika, die Sie um Rat bat, da ihr Freund mit einer inzwischen dementen Frau verheiratet ist. Es ging um die Frage: liegt Ehebruch vor oder nicht.
Ich befinde mich in einer absolut gleichen Lage, nur daß ich der Ehemann in diesem Trio bin. Über 50 Jahre bin ich mit meiner Frau verheiratet, die inzwischen in einer Dementenwohngruppe lebt, mich nicht mehr erkennt. Aber ich werde sie weiter besuchen, sie streicheln und für sie sorgen. Die Bekanntschaft mit einer anderen Frau schien für mich wie von Gott gesandt, der Trost in meinen schweren Stunden, die Hoffnung für ein neues Leben.
Aber diese an sich großartige Frau konnten Sie nicht überzeugen. Es war nicht die verbliebene Bindung an meine Ehefrau, die sie störte, sondern ihr starker Glaube, daß man die Bibel nicht interpretieren dürfe und sie wörtlich anzuwenden habe.
Wir hatten vereinbart, drei Pastoren zu befragen und danach eine Entscheidung zu treffen. Zu meiner Überraschung sagten alle drei eindeutig: das ist Sünde. Einer ging sogar soweit, zu sagen, "Gott will auch keine rein intellektuelle Beziehung zwischen einem verheirateten Mann und einer Frau. Die vorprogrammierte Versuchung ist bereits Sünde."
Inzwischen sind wir beide nach vielen Tränen getrennt - und leiden beide. Sie spricht nach wie vor von Liebe, bringt aber zum Ausdruck, daß ihr die Erfüllung der Gebote Gottes und das ewige Leben wichtiger sind. Ich kann nicht verstehen, daß Gottes Wille so in der Praxis aussehen soll. Zwei Menschen, die sich zu ihm bekennen, und ihn doch so unterschiedlich verstehen, müssen leiden.
Seit unserer Trennung beschäftigt mich die Frage, in welchen Grenzen man die Bibel interpretieren, sie gewissermaßen auf unsere Zeit anwenden darf. Die Meinung meiner Freundin: "Das Wort ist eindeutig und nicht interpretierbar. Wohin kämen wir denn, wenn jeder seine eigene Auslegung vornimmt?"
Wie sehen Sie das? Gibt es zu dieser Frage vielleicht Literatur?
Vielen Dank im Voraus für Ihre Antwort.
Herbert R.
Lieber Herr R.,
es tut mir von Herzen Leid, dass Ihre Frau so schwer erkrankt ist. Und es tut mir besonders l´Leid, dass Sie kaum Trost finden können in Ihrer Situation. Wie ich in meiner Antwort vom letzten Jahr schon schrieb, ist dies eine Situation, die einen ständigen Kontakt mit dem eigenen Gewissen braucht. Insofern kann ich es nachvollziehen, dass sich Ihre Freundin dazu entschieden hat, Ihre Beziehung zu beenden. Sie ist ihrem Gewissen gefolgt. Solch eine Entscheidung kann leider auch Schmerzen mit sich bringen. Dass Sie einander weiterhin lieben, hält den Schmerz weiter wach.
Theologisch bin ich freilich anderer Meinung als Ihre Freundin. Sie schreiben, dass sie der Überzeugung ist, dass man die Bibel nicht interpretiere dürfe. Ich höre und lese diesen Satz häufig, und ich halte ihn für einen Irrtum. Der Irrtum besteht schlicht in der Annahme, es gebe eine Möglichkeit, die Bibel NICHT auszulegen. Wer die Bibel liest, da erst Recht, wer sich von ihr in seinem Glauben leiten lassen will, interpretiert die Bibel IMMER. Die Bibel "wörtlich" zu nehmen, ist ebenfalls eine Interpretation. Wer darauf beharrt, man dürfe die Bibel nicht auslegen, meint in der Regel eine bestimmte Art der Auslegung, die nicht sein dürfe. Wer irgendeine Bibelstelle als Begründung für ein bestimmtes Veralten anführt, interpretiert diese Bibelstelle. Nehmen wir zum Beispiel die Todesstrafe: Für die Bibel ist die Todesstrafe selbstverständlich. Dennoch sind heute evangelische wie katholische Kirche vereint im Kampf gegen sie. Der Grund: Man hat die Bibel auf eine bestimmte Weise interpretiert.
Das hilft in Ihrem Fall freilich wenig weiter, denn Ihre Freundin interpretiert die Bibel eben auf ihre bestimmte Weise, die dazu führt, dass ihr Gewissen schlägt. Wenn ich mich auf ihre Art der Interpretation einlasse, kann ich argumentieren, dass die Bibel zwar keine Geschichten von Demenz und Partnerschaft hat, schon aber solche, in denen eine Ehe (aus weitestgehend medizinischen Gründen) nicht "funktioniert", und darum weitere Frauen ins Spiel kommen – und zwar mit Gottes Segen. Sarah kann keine Kinder bekommen, also schläft Abraham mit ihrer Magd Hagar. Wenn man die Bibel möglichst wörtlich nehmen wollte, könnte man hier einen Grund finden, warum Sie und Ihre Freundin einander lieben sollten. Die Ehe von Sarah und Abraham bleibt ja vollkommen unangetastet (1. Mos 16), auch wenn es zwischen den beiden Frauen zu Spannungen kommt. Genauso verhält es sich mit der Ehe von Jakob und seinen zwei (!) Frauen Rahel und Lea. Wer die Bibel gern wörtlich nehmen möchte, müsste hier die Erlaubnis sehen, sich mehrere Frauen zu nehmen. (1. Mos 29-30)
Jeder Text wird in dem Moment ausgelegt, in dem er gelesen wird. Gerade darum ist es wichtig, dass unsere Auslegungen bewusst geschehen. Wer es mit dem christlichen Glauben und der Bibel als dem entscheidenden Zeugnis des Christentums ernst meint, wird die Bibel immer mit großer Sorgfalt auslegen und dabei darauf achten, ob er oder sie die Bibel nicht lediglich zum eigenen Nutzen auslegt. Aber Auslegung geschieht immer.
Ich glaube, dass Gott das Beste für uns Menschen will. Darum sage ich auch: Gott will nicht, dass Sie leiden, sondern dass Sie eine Lösung finden, die möglichst wenig Leid verursacht. Aber bedenken Sie: Es scheint Ihrer Freundin großes Leid zuzufügen, sich gegen das zu stellen, was sie als Gottes Willen anerkennt. Das können weder Sie, noch ich ihr ausreden. Und das ist letztendlich auch gut so.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie in dieser furchtbaren Situation Wege zum Trost und zum Verständnis füreinander finden können. Gott segne Sie alle drei!
Ihr Frank Muchlinsky