Bitte erklären Sie mir diesen Vers: Markus 4,12
Ich kann nicht glauben, dass Jesus das so gesagt hat.
Entweder Gott liebt alle Menschen und gibt ihnen bis zuletzt die Möglichkeit, zu verstehen, oder es gibt tatsächlich Auserwählte.
Zu Letzteren wage ich mich nicht zu zählen.
Ihre Antwort ist mir wichtig, denn ich finde keine, auch wenn ich diesen Vers nicht aus dem Zusammenhang reiße.
Danke im Voraus
Friedhelm
Lieber Friedhelm,
ich kann gut nachvollziehen, dass Sie mit der Aussage in diesem Vers nichts anfangen können, beziehungsweise möchten. Jesus legt hier das Gleichnis vom "vielfachen Acker" aus, in dem ein Mensch sät und die Saat nicht nur auf fruchtbaren Boden, sondern auch auf felsigen Grund, auf den Weg oder unter Dornen fällt. (Mk 4,3-9) Daraufhin wird Jesus von seinen Jüngern gefragt, warum er in Gleichnissen redet, und er antwortet recht rätselhaft, dass ihnen das Reich Gottes gegeben sei, denen "draußen" aber alles "in Gleichnissen widerfahre". (Mk 4,10-11) Soweit könnte man ja noch mitgehen und sagen: Ja, die Jünger kapieren eben auch ohne Gleichnisse, was Jesus meint, die anderen Leute, die Jesus nicht so nahe sind, brauchen aber Gleichnisse um zu verstehen. Aber nun setzt Jesus noch einen drauf und sagt den Satz, der Sie so irritiert: "auf dass sie mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde." (Mk 4,12)
Diese Aussage ist in der Tat vollständig gegensätzlich zu allen Stellen, an denen Jesus deutlich macht, dass alle umkehren sollen, dass es dafür niemals zu spät ist. Da muss man sich also tatsächlich fragen, wie es zu dieser harten Aussage "Die sollen sich gar nicht bekehren, damit ihnen ja nicht vergeben wird" kommt. Ein erster Schritt ist dabei, einmal zu schauen, wie diese Stelle in den anderen Evangelien erzählt wird. Bei Lukas fehlt der Satz komplett. (Lk 8,9-10 und Vers 18) Bei Matthäus kann man sehen, woher der Satz mit dem bekehrt und Vergeben stammt. Dort heißt es nämlich:
Und an ihnen wird die Weissagung Jesajas erfüllt, die da sagt: »Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen und werdet nicht erkennen. Denn das Herz dieses Volkes ist verfettet, und mit ihren Ohren hören sie schwer, und ihre Augen haben sie geschlossen, auf dass sie nicht mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, dass ich sie heile.« (Matt 13,14-15)
Und tatsächlich, wenn man beim Propheten Jesaja nachschaut, heißt es dort:
Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet's nicht; sehet und merket's nicht! Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen. (Jes 6,9-10)
Wenn man sich all diese Stellen anschaut und sich ebenfalls vor Augen hält, dass die christlichen Gemeinden, für die die Evangelisten schrieben, ihre ganz besonderen Erfahrungen und Probleme hatten, kann man sich gut vorstellen, dass dieses Wort Jesus in den Mund gelegt wurde. Machen wir uns unbedingt klar: Die Evangelien wurden erst viele Jahrzehnte nach dem Leben Jesu aufgeschrieben. Sie sind keine Reportagen, sondern Erinnerungen und Deutungen. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass die frühen christlichen Gemeinden mit ihren Bemühungen, den Leuten das Evangelium von Jesus Christus zu verkünden, sehr oft an ihre Grenzen stießen. Wer der Überzeugung ist, dass er das Beste zu erzählen hat, das es gibt, die absolut selig machende Botschaft, und dann nicht gehört wird, der wird sich zwangsläufig fragen müssen, was da falsch läuft. Das ist es eine sehr beruhigende Vorstellung, wenn man sich daran erinnert, dass schon Jesaja geschrieben hat, dass dieses Volk, zu dem man predigt, verfettete Herzen und verschlossene Ohren hat. Es tut dem immer wieder erfolglosen Prediger gut, wenn er sich darauf berufen kann, dass Gott es im Grunde genau so WILL, dass sie nicht zuhören und gerettet werden.
So lege ich diesen Bibelvers aus. Für mich sagt er vor allem etwas über den Verfasser des Markusevangeliums (beziehungsweise des Matthäusevangelium) und deren Gemeinden. Zu der Botschaft Jesu in ihrer Gesamtheit passt die Aussage in der Tat nicht. Es geht also nicht darum, dass Gott sich die Menschen herauspickt, die er retten will, während die anderen von vornherein verstockt und also verloren sind. Stattdessen sagt mir dieser Vers: Manchmal kommt man mit seinen Bemühungen schlichtweg nicht weiter, und dann muss man sich irgendwie eingestehen, dass es keinen Sinn mehr hat. Im großen Plan Gottes macht das vielleicht sogar Sinn.
Ich hoffe, dass ich Ihnen eine Auslegung geben konnte, die Ihnen mit Ihrer Frage weiterhilft. Ich grüße Sie herzlich.
Frank Muchlinsky