Die Bibel als abgeschlossene Quelle

Yvonne
verschiedene Bibelübersetzungen
©Getty Images/iStockphoto/selimaksan

Lieber Herr Muchlinsky,
die Bibelstellen, aus denen hervorgeht, dass es sich bei der Bibel um ein abgeschlossenes Werk handelt, sind mir bekannt. Nun frage ich mich aber seit langem, warum es ausgeschlossen ist, dass Gott nicht vielleicht doch noch einmal seine Meinung ändern möchte, irgendeinen Wortlaut anpassen möchte, Aussagen an die heutige Welt anpassen möchte. Wie könnten wir eine etwaige Änderungs- oder Ergänzungsabsicht erkennen, wenn wir uns der Möglichkeit, dass diese Absicht überhaupt existieren könnte, verschließen?
Ich freue mich schon sehr auf Ihre Antwort und bedanke mich bereits im Voraus sehr herzlich für Ihre Mühe! Liebe Grüße!

Liebe Yvonne,

Die Bibel ist bei genauer Betrachtung kein abgeschlossenes Werk, zumindest kein einheitlich abgeschlossenes. Sie werden feststellen, dass der Umfang der Bibel je nach Ausgabe von einander abweichen kann. Vor allem die Anzahl der alttestamentlichen Bücher und deren Anordnung variiert enorm. Der Tanach, also die hebräisch-aramäischen Schriften, die für das Judentum Gültigkeit haben, umfasst 24 Bücher. Für die ersten 400 Jahre war die Septuaginta, also die griechische Übersetzung des Alten Testaments, für das Christentum maßgeblich. Sie enthält ganze 54 Bücher. Die Vulgata, die lateinische Übersetzung, gültig für die römisch-katholische Kirche, zählt 46 Bücher, die Lutherbibel nur noch 39.

Auch bei den Schriften des Neuen Testaments war man sich zunächst gar nicht einig, welche Bücher nun dazugehören sollten, und welche nicht. Die 4 Evangelien, die Sie kennen, waren unumstritten. Das gilt auch für die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe. Der Hebräerbrief aber und der 1. Petrusbrief waren zeitweise hoch umstritten. Einige Bücher haben es auch nicht in den Kanon der Bibelschriften geschafft, obwohl sie in verschiedenen Gegenden ausgesprochen beliebt waren. Die "Offenbarung des Petrus" zum Beispiel oder das "Hebräerevangelium".

Im Grunde genommen ist der genaue Umfang der Schriften der Bibel bis heute im Wandel. Allerdings gilt in den Kirchen ein gemeinsamer Grundsatz: Neue Schriften werden nicht aufgenommen. Tut eine Glaubensgemeinschaft das und behauptet, ein neues Buch enthalte eine direkte göttliche Offenbarung, schließt sie sich damit automatisch aus der Gemeinschaft der christlichen Kirchen aus. Die Mormonen sind solch ein Beispiel. Sie haben in ihrem Buch Mormon eine zusätzliche Offenbarungsquelle, die von allen anderen Kirchen abgelehnt wird.

Die theologische Begründung des weitgehend geschlossenen Kanons lautet: Gott hat durch den Geist der Kirche den Weg gewiesen, welche Schriften sein Wort enthalten und welche nicht.

Ihre Frage ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe, was Gott denn gegen dieses – von Menschen gemachte – Verbot tun kann, wenn er zum Beispiel etwas richtigstellen möchte. Dazu müssen wir uns klar machen, dass die Bibel zwar nach allgemein christlichem Verständnis eine Offenbarungsquelle ist, aber nicht die Offenbarung selbst. Die Bibel bleibt in ihrem Bestand erhalten wird nicht mehr wesentlich verändert. Allerdings wird sie selbstverständlich seit ihrem Bestehen immer wieder neu gelesen. Wer aber liest, bringt der Text automatisch mit sich selbst in Verbindung. Jemand der unter dem Nationalsozialismus litt, wird den Satz "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott" (Römer 13,1)anders lesen als jemand, der lange Zeit vorher lebte, vielleicht auch noch unter einer gerechten Herrschaft.

Mit anderen Worten, die Bibel will immer wieder gelesen und also interpretiert werden. Wenn ich also Ihrem Gedankenexperiment folge und annehme, Gott wollte etwas klarstellen an einer bestimmten Textstelle, so könnte er seinen Geist über Menschen ausgießen, die die entsprechende Stelle anders interpretieren, beziehungsweise sie in einen Zusammenhang stellen, der sie anders einordnet. Nehmen wir zum Beispiel den viel zitierten Satz: "Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel." (3. Mose 18,22) Dieser Satz ist ein Gebot, das in der Bibel steht, man kann ihn nicht löschen. Aber man kann ihn in die anderen Gebote einordnen, die ebenfalls in der Bibel stehen. So kann man zu dem Schluss gelangen, dass das Gebot der Liebe wichtiger ist als dieses. Schließlich hat Jesus selbst das Gebot der Liebe zu Gott und zu den Menschen als das höchste von allen bekräftigt.

Spannend ist nun, dass Menschen, die darauf beharren möchten, dass das Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualität unbedingt einzuhalten ist, häufig die Interpretation der Erlaubnis wegen des Liebesgebotes als "Zeitgeist" brandmarken. Sie schließen damit aus, was ich hier für möglich halte: Dass Gottes Offenbarung eben auch in der Interpretation der Heiligen Schrift wirken kann. Natürlich ist nicht jede Interpretation gleich vom Heiligen Geist inspiriert, aber man kann nach den Früchten schauen, die eine Interpretation hervorbringt, und danach urteilen. Wie in unserem Beispiel: Durch die Erlaubnis gleichgeschlechtlicher Partnerschaften kann Liebe gelebt werden. Es entsteht unendlich mehr Gutes als Schlechtes. Eine strikte Unterdrückung dieser Liebe hingegen führt zu Leid. Das ist nicht "Zeitgeist", sondern das ist eine beobachtbare Tatsache.

Wenn wir merken, dass eine bestimmte Auslegung der Bibel Leid verursacht, sollten wir aufmerksam werden. Es könnte Gottes Geist sein der uns dieses Unbehagen macht, und dann sind wir alle berufen, eine schlüssige Interpretation zu finden, die Gutes hervorbringt.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen. Ich weiß, die Antwort ist recht lang geworden.

Alles Liebe!

Frank Muchlinsky

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