Guten Tag,
wie werden Marienerscheinungen denn aus evangelischer Sicht bewertet? Dazu finde ich nämlich keine Antworten. Mich beschäftigt der Gedanke dadurch, dass ich vor etwa 1 1/2 Jahren zum christlichen Glauben gekommen bin und mich noch nicht für eine Konfession entschieden habe. Ich meine, dass die Realität solcher Erfahrungen ja eigentlich einen Mangel im rationalerem lutherischem Glaubensleben beschreibt? Beziehungsweise, wie würden Sie das einordnen und welchen Stellenwert meinen Sie, sollte das bei der Entscheidung für eine Konfession sein?
Herzliche Grüße
Victoria
Liebe Victoria,
vielen Dank für deine Frage! Zunächst einmal die Fakten: In der evangelischen Kirche gibt es keine Marienerscheinungen, die von der Kirche als solche offiziell anerkannt werden. Es geht in (katholisch legitimierten) Marienerscheinungen ja immer darum, dass sie bestimmten Menschen göttliche Botschaften vermittelt. Das ist nach evangelischem Verständnis nicht möglich und auch nicht nötig. Was Gott den Menschen zu sagen hat, hat er uns in Jesus Christus gesagt. Das Zeugnis von Jesus Christus wiederum ist allein die Bibel. Du siehst: Es geht nicht so sehr darum, ob Maria jemandem erscheint, sondern darum, ob die Kirche diese Erscheinung als göttliche Offenbarung anerkennt.
Das heißt also nicht, dass in der evangelischen Kirche spirituelle Erfahrungen grundsätzlich abgelehnt werden. Es gibt durchaus Raum für persönliche Erlebnisse, für das Wirken des Heiligen Geistes, für Gebet und Stille. Wenn jemand von einer Marienerscheinung berichtet, wird das in der evangelischen Kirche als eine persönliche Erfahrung angesehen, die für die einzelne Person bedeutsam sein kann – aber sie hat keine normative Funktion für die Kirche.
Nun zu Deinem bemerkenswerten Satz: „Ich meine, dass die Realität solcher Erfahrungen ja eigentlich einen Mangel im rationalerem lutherischem Glaubensleben beschreibt.“ Das klingt, als würdest Du sagen: Wenn es solche tiefen spirituellen Erfahrungen gibt, dann zeigt das vielleicht, dass der lutherische Glaube zu kopflastig ist und etwas vermissen lässt. Das ist allerdings nicht ganz richtig. Wie erwähnt ist der evangelische Glaube stark von der Auslegung der Bibel geprägt. Allerdings gibt es auch in der evangelischen Kirche eine mystische Tradition – denk nur an die Lieder, an die Musik, in der sich die reformatorische Frömmigkeit ausdrückt. Und Maria? Martin Luther hatte kein Problem mit ihr. Im Gegenteil – er verehrte sie als Glaubensvorbild. Luther schrieb sogar ein Lied über Maria: „Sie ist mir lieb, die werte Magd“.
Deine Entscheidung für eine Konfession solltest Du nicht allein an der Frage festmachen, ob man Marienerscheinungen für möglich hält oder nicht. Viel wichtiger ist: Wo findest Du eine geistliche Heimat? Wo wird Dein Glaube genährt, herausgefordert, begleitet? Wo kannst Du mit anderen gemeinsam glauben, zweifeln, hoffen und feiern?
Alles Gute für den Weiteren Weg und herzliche Grüße!
Frank Muchlinsky
Wenn Du weiterlesen möchtest zu dem Thema, empfehle ich dir folgend Beiträge: