Ursache unserer Existenz ist der Wille Gottes, die unbedingte Zuwendung der Liebe Gottes, die jeden einzelnen Menschen von Anbeginn der Zeit ins seiner Individualität so "gewollt" hat. Durch Jesus Christus ist uns ein ewiges Leben verheißen. Die Zeit zwischen Leben und Tod ist die Zeit, in der wir - mit einer relativen Freiheit versehen - uns entwickeln, uns - im Gegenüber zu unseren Mitmenschen und zu Gott - bewähren sollen. Rechenschaft für unser Tun und unser Unterlassen sind wir - im Angesicht der Liebe Gottes - uns vor allem selbst schuldig. Gottes Gnade ist unbedingt und unendlich.
Nur: Warum ist der Mensch erlösungsbedürftig, der Gnade bedürftig? Wenn unsere Existenz im Willen Gottes ihren ersten und letzten Grund hat, warum sind wir dann so "gnadenbedürftig", wie wir sind? Warum dieser unvollkommene Augenblick, wenn wir doch für eine vollkommene Ewigkeit bestimmt sind? Ist Gott ein strenger "Vater" (oder welcher Begriff auch immer), der seine Geschöpfe zuerst durch die Mühle eine strengen, ja sadistischen "Internatsschule" jagen muss, damit es "rechte" Menschen werden und die dann erst für ihr eigentliches Dasein - die "Ewigkeit" - taugen?
Entspringt die Sehnsucht nach Gnade und Erlösung nicht der zunächst einmal nicht hinterfragten und ungefragt bejahten Tatsache "wir existieren" und dem durchaus rein biologisch begründeten "Existieren wollen" (wie jedes Lebewesen!)? Daraus folgt dann- angesichts der offensichtlichen Unzulänglichkeit dieses Daseins - dem Prinzip der "Selbsterhaltung" folgend und die im Bewusstsein des "sterben Müssens" - die Idee "göttlicher Gnade" als einzig realistische Chance für diesen Selbsterhalt?
Lieber Herr Wilhelm,
Ihr Frage beginnt mit einer Glaubensaussage und endet mit einer religionshistorischen Fragestellung. Ich werde darum zunächst einmal auf die Überlegungen in Ihrem letzten Absatz eingehen, bevor ich eine eher theologische Antwort gebe. Religionsgeschichtlich betrachtet haben Sie vermutlich Recht (auch wenn das nicht mein Spezialgebiet ist): Die Menschheit wurde (sehr verkürzt ausgedrückt) religiös, weil sie sich als sterblich und die eigene Existenz als unzulänglich und bedroht erlebte. Es bedurfte der Gnade höherer Mächte als der eigenen, damit man den nächsten Tag erleben, die nächste Ernte einfahren, die Kinder großziehen konnte.
Das Christentum hat auf der Grundlage der biblischen Traditionen ein Menschenbild entwickelt, wie Sie es in Ihrem ersten Absatz beschreiben: Der Mensch ist von Gott gewollt und geliebt. Und – wie Sie ebenfalls schreiben – er hat die Möglichkeit (und die Bestimmung), sich zu entwickeln. Sie schreiben von einer „relativen Freiheit“. Das nun ist der springende Punkt. Der Mensch kann sich eben nicht dafür entscheiden, seiner Bestimmung, die er ebenfalls von Gott bekommen hat, vollständig gerecht zu werden. Man muss gar nicht nur bei den zehn Geboten nachsehen, um zu erkennen, dass kein Mensch auf der Welt sie jemals alle und immer und vollständig befolgt hat. Auch Jesus - dem ja gerne fälschlicher Weise zugeschrieben wird, dass er ein wenig „lockerer“ und freundlicher daher kommt als Gott, wie er im Alten Testament beschrieben wird – auch Jesus ist, was die Ansprüche an die gläubigen Menschen angeht, ausgesprochen rigide: In der Bergpredigt heißt es (Mt 5,48): „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“
Das ist der göttliche Anspruch, dem wir Christinnen und Christen gegenüberstehen. Geliebt und gewollt, wie wir sind, sollen wir vollkommen sein. Das kann nicht gelingen. Wir können nicht durch das Leben gehen, ohne uns gegen Gott oder unsere Mitmenschen zu „versündigen“. Darum sind wir erlösungsbedürftig. Gottes unendliche Liebe macht uns genau das möglich: dass wir trotz dieser unserer Unzulänglichkeit immer wieder neu versuchen können, vollkommen zu sein – auch wenn wir wissen, dass wir wieder scheitern werden, weil wir eben sind, wie wir sind.
Die „Internatschule“ Leben ist nicht dafür da, dass wir hier „rechte“ Menschen werden. Die sind wir – wie Sie auch schreiben – längst. Wir taugen für die Ewigkeit, wie wir für dieses Leben taugen. Wir können und müssen eben nicht uns diese Tauglichkeit erarbeiten. Erlösung geschieht nicht erst durch den Tod. Sie kann genau in dieser Erkenntnis entstehen, dass ich immer wieder scheitern und wieder anfangen darf. So erlöst kann ich wieder versuchen, „vollkommen“ zu sein.
Herzliche Grüße
Frank Muchlinsky