Kann Luther als Prophet gelten?

Peter
Denkmal des Reformators Martin Luther
epd-bild/Matthias Rietschel

Lieber Herr Bezold,

gehen wir zunächst von den beiden folgenden Grundannahmen aus:
1: Die Bibel berichtet aus Menschenhand von der gemeinsamen Geschichte Gottes mit den Menschen. Sie ist keine direkte Verkündigungsschrift.
2: Diese gemeinsame Geschichte ist noch nicht am Ende. Weder ist das jüngste Gericht eingetreten noch das Reich Gottes auf Erden vollendet.

Muss daraus nicht der Schluss folgen, dass auch die Bibel eine kontinuierliche Fortschreibung erfahren müsste? Ich denke da an Texte wie das Augsburger Bekenntnis oder "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Oder würde gerade das im lutherischen Sinne der Sola Scriptura widersprechen; welche sich ja vehement gegen die altkirchliche Praxis stellte, dogmatische Kirchenlehre auf einen oder sogar einen höheren Rang als die Bibel zu stellen.

Und eine letzte provokante These: Kann Luther als ein Prophet im biblischen Sinne betrachtet werden?
Herzliche Grüße, Peter

Lieber Peter,

einige spannende Fragen höre ich da heraus: Was bezeugt die Bibel eigentlich? Ist die Offenbarung der Bibel abgeschlossen? Welche Rolle spielen die Bekenntnisse? War Luther ein Prophet wie Jesaja oder Amos?

Ich möchte zunächst auf Ihre „Grundannahmen“ eingehen, bevor wir uns Luther als Prophet widmen. Fangen wir mit der Bibel an:

Im christlichen Glauben bezeugt die Bibel Jesus Christus. Er ist das Mensch-gewordene Wort Gottes. Dazu gehört die Geschichte Gottes mit den Menschen, mit denen er in eine Beziehung tritt. Gott selbst ist Offenbarung, von der die Bibel aus ganz verschiedenen (menschlichen) Perspektiven berichtet. In Jesus Christus fallen Offenbarung und Offenbarer (also Gott) zusammen. Er ist Höhepunkt der göttlichen Offenbarung. Ob diese Offenbarung in Christus abgeschlossen ist (so viele katholische TheologInnen) oder ob die Offenbarung ein offener Prozess ist (so einige evangelische TheologInnen), wird unterschiedlich bewertet. Gemeinsam bekennen alle ChristInnen der Welt, dass Gott durch Leben, Tod und Auferstehung von Jesus Christus sich endgültig den Menschen gezeigt hat. Alles ist gesagt. Insofern ist die Bibel abgeschlossen, es kann keine Fortschreibung der Bibel geben. Völlig vollendet ist Gottes Offenbarung aber erst am Ende der Zeit. Nicht in unserer Welt, die an Raum und Zeit gebunden ist.

Ich gebe zu, das sind große theologische Brocken. Sie sind aber wesentliche Bausteine eines Verständnisses des evangelischen Bekenntnisses, weil ich der Meinung bin, dass die Bibel in diesem Lichte doch „Verkündigungsschrift“ ist. Sie bezeugt Gottes Offenbarung in der Geschichte der Menschen. Diese Geschichte – da gebe ich Ihnen recht – ist nicht abgeschlossen. Die Offenbarung braucht uns Menschen weiterhin, um verstanden zu werden. Dabei wirkt Gott durch seinen Heiligen Geist mit. Er begleitet die Offenbarung und sorgt dafür, dass sie weiterwirkt und (neu) verstanden werden kann. Dazu gehören in evangelischer Überzeugung die von Ihnen erwähnten Bekenntnisschriften. Maßstab aller traditionsgebundenen Bekenntnisse ist und bleibt aber allein die Schrift und die darin bezeugte Offenbarung in Jesus Christus. Sola scriptura.

Womit wir bei der eigentlichen Frage sind, ob Luther „Prophet“ genannt werden könnte. In der Bibel sind ProphetInnen keine „Zukunftsweissager“, so wie wir den Begriff gerne verwenden. Im biblischen Sinne sind Prophetinnen und Propheten EmpfängerInnen der göttlichen Offenbarung(en), die sie durch Zeichenhandlungen oder prophetische Worte weitergeben. Sie deuten Ihre Geschichte vor dem Willen Gottes und predigen zum Beispiel soziale Gerechtigkeit, weil Ungerechtigkeit und nicht dem göttlichen Willen entspricht. Luthers Auftreten und seine Taten haben schon seine Zeitzeugen derart fasziniert, dass sie ihn als Werkzeug Gottes verstanden haben. Er hat auch konkrete Missstände in seiner Umwelt angeprangert. Einige haben Luther sogar als den wiedergekommenen Propheten Elias gesehen, den das letzte prophetische Buch der Bibel Maleachi (Maleachi 3,23) verheißt. Auch in der Lutherforschung gibt es immer wieder Positionen, die Luther als prophetische Gestalt verstanden haben.

Ich persönlich glaube, dass man in Martin Luther durchaus prophetische Züge erkennen kann, ihn zum Propheten erklären möchte ich deswegen aber nicht. Sein Grundbedürfnis, die Kirche zu reformieren, bewegt die Kirche bis heute. Er hat nachdrücklich auf die Bedeutung der Schrift hingewiesen und damit an die Offenbarung Gottes erinnert. Insofern erinnert er an die biblischen Propheten, die auch immer wieder das Einhalten von Gottes Wort erinnern. So zeigt ihn Lukas Cranach zum Beispiel auf dem Altar in der Stadtkirche zu Wittenberg („Martin Luther als Prediger“). Zentral der gekreuzigte Christus, links die Gemeinde, rechts Luther auf der Kanzel. Eine Hand zeigt auf den gekreuzigten Christus (solus Christus), die andere liegt auf einer aufgeschlagenen Bibel (sola scriptura). Neben aller Begeisterung für Luther müssen wir aber erkennen, dass die Reformation zu kirchlichen Spaltungen geführt hat und Luthers Schattenseiten zu viel Leid beigetragen haben.

Lassen Sie mich diese Antwort noch einmal knapp zusammenfassen: Ich glaube, dass der Geist Gottes bis heute wirkt. „Wo und wann er will“ (Johannes 3,8). In der Bibel, unter den ersten Christinnen und Christen, bei Luther und auch heute. Wenn Luther auf die Offenbarung Christi verweist, kann man das mit gutem Gewissen im biblischen Sinne „prophetisch“ nennen. Die Bibel benötigt aber keine Fortschreibung, sondern eine geistgewirkte Auslegung. Ich kann nur hoffen, dass meine Antwort ein kleiner Beitrag dazu war.

Herzliche Grüße!
Helge Bezold

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