Guten Tag, Frau Scholl,
in der Bergpredigt (wie auch an vielen anderen Stellen des NT) stellt Jesus (Mt 5, 21ff.) seine (neuen) Aussagen den Aussagender der "Alten" (aus dem AT?) gegenüber: "Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt wurde: ...., ich aber sage euch ...."
Frage: gibt es zum "Vater unser" (Mt. 6,10-13) formuliert von Jesus eine alte Form des Gebets, an der man den Unterschied von alt und neu erkennen könnte?
Mit freundlichen Grüßen,
Klaus Scala
Lieber Herr Scala,
vielen Dank für Ihre Frage und schön, dass Sie sich von den biblischen Texten so ins Nachforschen bringen lassen. In der Bergpredigt sind zentrale Worte Jesu zusammengetragen. Jesus hielt nach Erzählung der Evangelisten diese Rede in der Nähe des Sees Genezareth auf einem Hügel. Schon dadurch kann man leicht darauf kommen, dass hier eine Parallele zum Empfang der 10 Gebote durch Mose gezogen werden soll.
Wenn Jesus seine einzelnen Redeteile einleitet mit dem Hinweis „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist...“ (z. B. Mt 5,21) markiert er damit sein Verhältnis zum Gesetz und zu den Propheten, also wesentlichen Teilen der heiligen Schriften des Judentums bzw. dem, was für uns Christen im ersten Testament zu finden ist.
Sein Bezug darauf bedeutet aber nun nicht, dass diese Lehren einfach durch seine Lehren ersetzt würden, sondern Gesetz und Propheten sind für Jesus die Basis, auf dem er seine Lehre verkündet. Er sagt: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ (Mt 5, 17) Das Alte bleibt also in Geltung und gleichzeitig bricht mit Jesus etwas ganz Neues, eine neue Zeit an.
Dieses Neue lässt sich gut etwas näher beschreiben im Blick auf Ihre Frage nach einer alttestamentlichen Parallele zum Vaterunser. Eine alttestamentliche Parallele gibt es hier nicht, weil ja eben im Text des Vaterunsers ganz viel von dem Neuen steckt, was mit Jesus beginnt seinen Lauf zu nehmen. Diese ganze Fülle steckt schon in den ersten beiden Worten des Gebets. „Unser Vater“ (Mt 6,9), so spricht Jesus Gott an und das ist etwas völlig Neues. Es ist eine ganz neue Qualität der Gottesbeziehung, die damit in die Welt kommt, das Jesus sich Gott zugehörig fühlt wie ein Sohn und indem wir dieses Gebet heute beten im Gottesdienst oder zu Hause oder an anderen Orten, sind wir auch in dieser ganz intimen Beziehung mit Gott als seine Töchter und Söhne.
Das heißt natürlich nicht, dass die Formulierungen dieses Gebetes einfach so vom Himmel gefallen wären. Das gilt übrigens für die meisten Texte der Bibel, weshalb es ja so spannend ist, sich auf solche Forschungsreisen zu begeben, wie Sie das gerade tun. Das Vaterunser weist gewisse Parallelen mit einem alten jüdischen Gebet namens Kaddisch auf. Dieser Text lautet folgendermaßen:
„Verherrlicht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen schuf. Er lasse herrschen seine Königherrschaft zu euren Lebzeiten und zu euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel in Eile und Bälde. Gepriesen sei sein großer Name von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Mehr zum Kaddisch finden Sie unter diesem Link.
Es ist gut möglich, dass Jesus dieses in seiner Umwelt gebräuchliche Gebet gekannt haben könnte, es aufgegriffen und in seinem Sinne verändert hat.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen bei Ihrer Frage eine kleine Spur liefern und wünsche Ihnen weiter Freude daran, sich von den biblischen Texten zu eigenen Fragen herausfordern zu lassen.
Herzlich
Katharina Scholl