Ich habe sie schon des Öfteren bei uns in der Stadt angetroffen und heute waren sie auch wieder da. Eine Gruppe, meist junge Menschen, die sich "Juden für Jesus" nennen. "Juden für Jesus?" Diese Bezeichnung hat mich ins Schleudern gebracht. Wie kann das sein? Wer sich zu Jesus bekennt ist doch Christ, oder? Als mir, gesagt wurde, dass das eine Gruppe getaufter Juden sei, bin ich ebenfalls ins Schleudern geraten. Wer getauft ist, ist doch Christ, oder? Was ist das für eine Gruppierung, diese "Juden für Jesus?"
Liebe Susanne,
Ihre Frage streift ein heikles Thema, nämlich die Frage danach, ob Christen auch Juden missionieren sollten. Gerade nach den Verbrechen gegen die Juden während der Naziherrschaft hat sich die evangelische Kirche in Deutschland (EKD) der Verantwortung gestellt, die der „falsche Weg unseres bisherigen Denkens und Handelns gegenüber den Juden“ (EKD Denkschrift Nr. 144 aus dem Jahr 2000) mit sich gebracht hat. Die eben zitierte Denkschrift schreibt zu der Frage, ob Christen Juden missionieren sollten:
Wir lassen uns aufgrund des Bußrufs der Schoa auf einen neuen Weg des Urteilens und Handelns ein. Ein wichtiger Schritt dazu besteht in der Einsicht, die sich aufgrund eines neuen Lesens des Alten und Neuen Testaments ergibt: Gott hat Israels Bund zu keinem Zeitpunkt gekündigt. Israel bleibt Gottes erwähltes Volk, obwohl es den Glauben an Jesus als seinen Messias nicht angenommen hat. „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“ (Röm 11,1). Diese Einsicht lässt uns – mit dem Apostel Paulus – darauf vertrauen, Gott werde sein Volk die Vollendung seines Heils schauen lassen. Er bedarf dazu unseres missionarischen Wirkens nicht. (EKD Denkschrift 144, 3.3.4)
Bei den Juden für Jesus nun handelt es sich um eine Gruppierung von „Judenchristen“ bzw. „Messianischen Juden“. Diese werden in der Denkschrift ebenfalls erwähnt:
: 3.5 Anhang: Judenchristen und „Messianische Juden“3.5.1 Mit der Frage der "Judenmission" werden oft die Judenchristen und "Messianischen Juden" in Verbindung gebracht. Hier gibt es zwar Berührungen, jedoch handelt es sich im Kern um ein eigenständiges Phänomen.
Seit den Anfängen der christlichen Kirche hat es immer wieder Juden gegeben, die sich dem Glauben an Jesus geöffnet haben und sich taufen ließen. Die Urgemeinde in Jerusalem bestand ausschließlich aus solchen, die anfängliche Ausbreitung des christlichen Glaubens im Lande Israel geschah gleichfalls unter ihnen. Wenn ausnahmsweise ein Nichtjude zum christlichen Glauben kam, wurde dies als große Ausnahme vermerkt (vgl. Apg 10). Im Zuge der weiteren Entwicklung (vgl. 3.2.7) wurde die Situation dieser urchristlichen Judenchristen zunehmend prekärer. Innerhalb der christlichen Kirche wurden sie immer mehr zur Randerscheinung, von jüdischer Seite wurde ihnen die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk bestritten. Sie verschwanden im Laufe der ersten christlichen Jahrhunderte von der Bildfläche. Wer seit der Zeit der Alten Kirche als Jude zum christlichen Glauben kam, musste seine jüdische Identität aufgeben und sich der inzwischen "heidenchristlich" gewordenen Kirche anschließen.
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3.5.2 Eine neue Tendenz zeichnete sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Gründung bewußt "judenchristlicher" Gemeinden in Gebieten mit starker jüdischer Bevölkerung ab. Dabei wollte man von dem bis dahin allgemeingültigen Modell des Einzelübertritts unter Aufgabe der jüdischen Identität weg- und zu einer Beibehaltung dieser Identität durch eigenständige Gemeindebildung hinführen.
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In Anknüpfung an solche Vorläufer haben sich seit den sechziger Jahren in den USA Gruppen und Gemeinden mit ähnlicher Tendenz gebildet: Aus der Jugendbewegung der Jesus People entstand die Organisation "Jews for Jesus" (Hervorhebung von mir. FM), die vor allem in der akademischen Jugend durch ihren lockeren Stil Zulauf fand. Daneben und unabhängig davon bildete sich eine Vielzahl von - meist sehr kleinen - Gemeinden, die sich mit der Zeit zu größeren Verbänden zusammenschlossen; diese unterscheiden sich besonders durch den Grad der Aufnahme jüdischer gottesdienstlicher Gebräuche. Man rechnet in den USA und Kanada heute mit etwa 50.000 Mitgliedern dieser Bewegung, von denen allerdings bei weitem nicht alle ihrer Herkunft nach Juden sind. Ableger der amerikanischen Bewegung finden sich in den meisten Ländern, in denen Juden in größerer Zahl leben. Auch in Deutschland entfalten Messianische Juden, die aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind, Aktivitäten zur Bildung messianischer Gemeinden.
Für Ihre Frage, liebe Susanne, bedeutet das: Die „Jews for Jesus“ verstehen sich in der Tradition der allerersten Christen, die eben zum erwählten Volk Gottes (also zu den Juden) gehörten. Wie sehen nun die klassischen christlichen Kirchen und die jüdischen Autoritäten das? Noch einmal die EKD-Denkschrift:
3.5.3 Der religiöse Status der Messianischen Juden und ihrer Gemeinden ist weithin ungeklärt. Von seiten der klassischen christlichen Kirchen und Konfessionen werden sie meist nicht wahrgenommen. Unterstützung finden sie am stärksten in charismatischen und pfingstlerischen Kreisen. Von den jüdischen Autoritäten werden sie nicht als Juden anerkannt, sie gelten höchstens als abtrünnige Juden. In das christlich-jüdische Gespräch sind die Messianischen Juden infolgedessen in der Regel nicht einbezogen. Die Messianischen Juden selbst betonen jedoch, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung und Intensität, dass sie sich dem jüdischen Volk zugehörig fühlen und sich zugleich als Teil der Gemeinschaft aller Christusgläubigen sehen.
Hier noch der Link zu der vollständigen Denkschrift „Christen und Juden III“ EKD-Denkschrift 144, 2000
Ich grüße Sie herzlich!
Frank Muchlinsky