Besuch einer evangelischen Kirche war Todsünde?

Paul

Sehr geehrter Herr Pastor Muchlinsky!

Ich habe gerade in einem Artikel über Sitte und Moral folgendes gelesen: "So galt zum Beispiel bis zum II. Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) als Todsünde, eine protestantische Kirche zu besuchen, eine protestantische Bibel zu besitzen oder zu lesen". Hier der verkürzte Link zum besagten Artikel: http://bit.ly/18tCZZo

Wenn man so etwas liest, dann glaubt man sich ins Mittelalter zurückversetzt. War das denn wirklich so? Beste Grüße

Lieber Paul,

 

Nach katholischem Verständnis sind die Sünden eines Menschen nach ihrer Schwere zu unterscheiden. So kommt es zu einer Unterscheidung zwischen "lässlichen Sünden" und "Todsünden". So steht im Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) im Artikel über die Sünde: "Die Todsünde zerstört die Liebe im Herzen des Menschen durch einen schweren Verstoß gegen das Gesetz Gottes. In ihr wendet sich der Mensch von Gott, seinem letzten Ziel und seiner Seligkeit, ab und zieht ihm ein minderes Gut vor." (Link zum Artikel)

 

Welche Tat nun aber zu den Todsünden zu rechnen ist, das wird nicht durch feststehende Kataloge festgelegt. Vielmehr geht es der katholischen Lehre darum, die Art des Vergehens zu beschreiben, dass in die Kategorie Todsünde fällt. So heißt es zum Beispiel in dem erwähnten Artikel: "Eine Todsünde erfordert volle Erkenntnis und volle Zustimmung. Sie setzt das Wissen um die Sündhaftigkeit einer Handlung, ihren Gegensatz zum Gesetz Gottes, voraus." (Link zum KKK)

Die recht bekannte Siebenzahl der Todsünden ist also eher eine traditionelle Festlegung und weniger eine dogmatische.

 

Von der Todsünde können nach katholischem Verständnis drei Sakramente: Die Taufe, die Beichte und die Krankensalbung (also in Todesgefahr, wenn der Sterbende nicht zur Beichte gehen kann). Einen Überblick gibt hier die "Kathpedia".

 

Da es also um eine Einschätzung der Schwere der Sünde geht, war es im Laufe der Kirchengeschichte durchaus möglich, dass ganz unterschiedliche Taten als Todsünden bezeichnet wurden. Es ist darum kein Wunder, wenn der Besuch eines evangelischen Gottesdienstes einst zu den Todsünden gerechnet wurde. Schließlich ist die Reformation bis heute ein großes Trauma für die römisch-katholische Kirche.

 

Das Zweite Vatikanische Konzil hat in den 1960er Jahren mit einer großen Anzahl von durchaus überholten Vorstellungen und Praktiken der katholischen Kirche aufgeräumt. Besonders wurde das verhältnis zu den anderen christlichen Kirchen neu beschrieben. Bis dahin verstand sich die römisch-katholische Kirche als einzige Kirche überhaupt. Nun wurde in dem Dekret " Unitatis redintegratio" das Verhältnis zu den anderen Christinnen und Christen neu beschrieben – in deutlich konzilianteren Worten. Da ist es kein Wunder, dass es nach dem Zweiten vatikanischen Konzil keine schwerwiegende Sünde mehr ist, eine evangelische Kirche zu besuchen.

 

Ich grüße herzlich und danke Ihnen für die Frage!

Frank Muchlinsky