Bibelverständnis und Bibelauslegung

Lars

Lieber Herr Muchlinsky,

bis vor einem Jahr kannte ich von der Bibel nur die "gängigen" Geschichten aus dem Alten Testament, sowie die Evangelien, Apostelgeschichte und einige wenige Briefe. Dann habe ich mir vorgenommen, die Bibel richtig kennenzulernen, und im ersten Schritt die ganze Bibel einmal durchzulesen, um einen ersten Eindruck von der Verschiedenheit und dem Inhalt der Bücher zu erhalten. Dieses "Projekt" steht jetzt vor seinem Abschluss.

Manche Bücher bzw. Kapitel haben mein Interesse an einer Vertiefung geweckt, bei manchen erschließt sich mir die Bedeutung für die heutige Zeit nicht (falls es noch eine gibt), und manche haben mich in tiefe Zweifel gestürzt, wie z.B. der vielfach anscheinend von Gott selbst befohlene Völkermord auch an unschuldigen Frauen und Kindern. Hier habe ich nach Hilfen, Deutungen und Auslegungen gesucht. Neben der Stuttgarter Erklärungsbibel, deren (leider sehr knappen) Erklärungen ich in vielen Punkten folgen konnte, habe ich einen Blick in die John MacArthur Studienbibel und die Bibel-Kommentare von William MacDonald und anderen geworfen - und die Interpretationen sind für mich persönlich zum Teil haarsträubend. Die teils wörtliche Auslegung widerspricht meinem Gefühl für die wahre Bedeutung, und die Erklärungen für offensichtliche Widersprüche wirken für mich derart konstruiert, um die Bibel uneingeschränkt als "Gottes Wort" definieren zu können. In dem Zusammenhang habe ich mich dann auch mit verschiedenen Strömungen in den christlichen Kirchen und - was mich bis heute verwirrt - selbst innerhalb der evangelischen (Landes-)Kirche beschäftigt, und hier setzen meine Fragen an:

(1) Gibt es von der evangelischen Kirche eine klare Linie, wie die Bibel ausgelegt werden sollte? Die verschiedenen - sich z.T. sehr deutlich widersprechenden - Ansätze von sehr bibeltreuen Evangelikalen bis hin zu sehr kritischen Auslegern der Bibel scheinen alle ihre Heimat in der evangelischen Kirche zu haben. Ist jede Art der Auslegung "erlaubt"? Ist es "Glückssache", in was für eine Kirchengemeinde bzw. an welchen Pfarrer man gerät, und ob man deren Auslegungen teilt?

(2) Ich gehöre offenbar zum eher "kritischen" Lager, das vieles in Frage stellt. Können Sie mir Empfehlungen zur Vertiefung der Bibelanalyse / Auslegungshilfen etc. geben? Als "auf meiner Wellenlänge" habe ich bisher nur die Stuttgarter Erklärungsbibel und das Jahrbuch "Mit der Bibel durch das Jahr" (hier je nach Autor mit ein paar Ausnahmen) kennengelernt. Die "Bibel für heute" scheint für ein solches Jahrbuch auch recht ins Detail zu gehen, beim ersten Reinlesen habe ich aber das Gefühl gehabt, dass es eine Tendenz in die evangelikale Richtung hat. Und was die größeren Studienbibeln angeht, bin ich einfach überfragt. Bei vielen bekannten, wie der Wuppertaler, scheint es auch sehr bibeltreu zuzugehen.

Ich freue mich auf Ihre Antwort,
Lars

Lieber Lars,

 

schön, dass Sie in der Bibel lesen, und genauso schön, dass Sie dabei Ihren Verstand nicht ausschalten!

Sie schreiben, dass sie die Versuche  "haarsträubend" finden, die Bibel "uneingeschränkt als Gottes Wort" zu definieren. Damit meinen Sie solche Versuche, die Bibel wörtlich auszulegen. An dieser Stelle muss man aber einen Unterschied machen. Die evangelische Kirche versteht die Bibel als das einzige gültige Zeugnis des Wortes Gottes. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie wörtlich zu verstehen wäre. Für Martin Luther (und ebenso für die anderen Reformatoren) in der Bibel das Wort Gottes "enthalten". Das heißt nicht, dass jedes Wort der Bibel das Wort Gottes "ist". Was die Auslegung der Bibel angeht, so wollten die Reformatoren vor allem betonen, "wer" die Bibel auslegt, nicht "wie" man sie auslegt. Luther betonte, dass die Bibel "sich selbst auslegt". Das bedeutet, dass es nicht darauf ankommt, dass irgendwelche Autoritäten die Bibel auslegen, sondern, dass man die Bibel so auslegen muss, dass die Auslegung der Bibel der Bibel selbst nicht widerspricht. Wichtig dabei ist allerdings, dass Luther (und mit ihm die evangelische Kirche) von einer "Mitte der Schrift" ausgeht, also von einem Maßstab, an dem sich die Bibelauslegung ausrichten muss. Diese Mitte der Schrift ist für die evangelische Kirche Jesus Christus selbst. In Jesus Christus hat sich Gott auf einzigartige Weise den Menschen offenbart, nicht in der Bibel selbst. Darum muss sich die Auslegung der Bibel an ihm ausrichten.

Die Bibel kann also tatsächlich auf verschiedene Weise ausgelegt werde – von einer eher wörtlichen bis hin zu einer historisch-kritischen Auslegung, so lange die Auslegung im Blick behält, dass die Bibel ein Zeugnis von der Offenbarung Gottes durch Jesus Christus ist. Eine klare Ansage der evangelischen Kirche, die darüber hinausginge, gibt es nicht. Insofern macht es tatsächlich "Glücksache", wie Sie schreiben, ob Sie von der Kanzel eine Bibelauslegung hören oder ein entsprechendes Buch lesen, dass Ihnen entspricht. Allerdings sei angemerkt, dass die Evangelische Kirche in Deutschland von ihren angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer verlangt, dass sie sich alle im Studium mit einer kritischen Auslegung der Bibel vertraut machen. Ein fundamentalistischer Ansatz wird also nicht befördert, sondern solch einer, in dem wir lernen, dass die Bibel eben von Menschen geschrieben wurde, die in diesen Schriften zu ihrer Zeit ihre Erfahrungen mit Gott aufschrieben.

 

Damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage: Wenn Sie die Stuttgarter Erklärungsbibel als hilfreich erlebt haben, und wenn Sie Ihre Bibellektüre in dieser Richtung weiter vertiefen wollen, sollten Sie vielleicht einmal den Kommentar zur Zürcher Bibel lesen. Das ist ein dreibändiges Werk, in dem die Bibel übersetzt wird, und in dem auf gut verständliche Weise Erklärungen und Hintergründe zu finden sind. Ich füge hier einen Link an, damit Sie die Bücher leicht finden können. Ich würde Sie trotzdem bitten, dass Sie Ihren Buchhändler vor Ort bitten, Ihnen die Kommentarbände zu bestellen J.

 

Herzliche Grüße!

Frank Muchlinsky