Sehr geehrter Herr Frank Muchlinsky,
Erst einmal Danke für diese tolle Seite. Mir konnten schon viele Glaubensfragen gelöst werden. Gerade als homosexueller Christ stellen sich immer viele Fragen bzgl Bibel, Glaube und Gott. Ihre Seite hat meinen Glauben ungemein gestärkt. Danke!
Nun meine Frage: Die Bibel ist ja eine Bibliothek an Büchern. Doch ich frage mich sehr oft beim Lesen der Bibel, warum gerade diese Bücher und nicht andere es in die Bibel geschafft haben.
Mein Beispiel ist der Apostel Paulus. Seine Vorstellung von Glaube und der Sinn der Kreuzigung bestimmen immens unsere Vorstellung von Jesu Lehre und Sinn des Kreuztodes. Aber warum kam gerade er in die Bibel? Es gab doch so viel mehr Apostel und andere Theologen. Warum kommt der paulinischen Theologie so eine große Bedeutung im Neuen Testament zu? Und muss man bedingungslos Paulus‘ Lehre annehmen?
Ich hoffe, Sie verstehen meine Grundfrage? Wer bestimmte, welche Bücher in die Bibel gekommen sind und warum hat Paulus so eine Bedeutung?
Mit freundlichem Gruß!
Lieber Herr Schulze,
Ihre Frage kann ich nur sachgemäß beantworten, wenn ich ein klein wenig aushole. Die Bibel ist in der Tat eine Sammlung von verschiedenen Schriften verschiedener Autoren. Die Sammlung dieser verbindlichen Schriften nennt man Kanon. Die Kanonsbildung, der Prozess, in denen festgelegt wurde, welche Schriften verbindlich dazugehören, hat mehrere Jahrhunderte gedauert. Ich kann hier freilich nicht ausführlich auf diesen Prozess eingehen, aber ich möchte auf ein paar wichtige Punkte hinweisen.
- Wichtig ist, dass die einzelnen Schriften, die in dem langen Sammlungsprozess zusammengekommen sind, zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind. Es gibt ältere und jüngere Bücher.
- Bevor sie Teil des biblischen Kanons wurden, wurden die einzelnen Schriften bereits benutzt und konnten teilweise große Beliebtheit und Bedeutung gewinnen.
- Für den Kanon des Neuen Testaments gibt es ein Vorbild, nämlich den des Alten Testaments. Dieser Kanon wurde vom Judentum ungefähr um 100 n. Chr. festgelegt.
- Kanonsbildung hat immer etwas mit Abgrenzung zu tun. Nach innen grenzt man sich von Strömungen ab, die der Mehrheit als unpassend erscheinen, nach außen grenzt man sich von anderen Religionen ab, indem man seinen eigenen Kanon heiliger Schriften festlegt.
Was nun Paulus angeht, so sind seine Schriften die ältesten im neuen Testament überhaupt. Wir wissen aus einer anderen Bibelstelle (1. Petrus 3,15-16), dass Briefe von Paulus bereits früh gesammelt wurden. Paulus war durch seine enorme Reisetätigkeit und seinen regen Briefverkehr bereits zu Lebzeiten eine Autorität geworden. Wie man aus seinen Briefen weiß, hat er sich immer wieder mit Strömungen auseinandergesetzt, die Spaltungen in die jungen Gemeinden brachten. Die Lehre, die Paulus durch seine Briefe und Reisen vertrat, wurde auch nach seinem Tod lebendig gehalten. Es wurden weitere Briefe in seinem Namen geschrieben, die zum Teil ebenfalls in den biblischen Kanon übernommen wurden.
Vom Ende des 2. bis ins 4. Jahrhundert wurden nun Kataloge erstellt von solchen Schriften, die den damaligen Gelehrten als authentisch erschienen, das heißt, entweder von einem der Apostel selbst verfasste Bücher oder solche, die von jemandem verfasst wurden, die von den Aposteln autorisiert waren. So kamen die vier Evangelien in den Kanon, die Briefe des Paulus und die übrigen Briefe. Die Apokalypse des Johannes war noch lange umstritten und wurde erst im 4. Jahrhundert aufgenommen. Wir wissen heute, dass die Evangelien nicht von den Aposteln geschrieben wurden. Sie entstanden teilweise deutlich später. Das ändert allerdings nichts daran, dass uns diese Bücher als Teil der Heiligen Schrift gelten, denn sie enthalten eben das Zeugnis von der Offenbarung in Jesus Christus.
Einen für alle Christinnen und Christen verbindlichen Kanon gab es nicht und gibt es bis heute nicht. Die verschiedenen Konfessionen haben unterschiedliche Zählweisen und Umfänge in ihren Bibeln. Mit anderen Worten: Man darf durchaus darüber diskutieren, welche Schriften der Bibel ein besonders verlässliches Zeugnis Gottes enthalten, aber auch welche weniger wichtig und auch richtig erscheinen.
Noch einen Punkt lassen Sie mich ansprechen: In dem Moment, in dem man anfängt, nicht weitere Schriften zu produzieren, sondern aus den vorhandenen einen Kanon zusammenzustellen, beginnt man, die vorhandenen Schriften intensiv zu kommentieren. Das geschah im Judentum ebenso wie im Christentum. Die Schriften des Kanons bleiben, werden aber sofort immer wieder kommentiert und dadurch interpretiert. Dieser Punkt ist für Ihre Frage besonders wichtig, denn es bedeutet, dass man die Bibel bereits während ihrer Entstehung befragt und hinterfragt hat. Die Kommentierung der Bibel, ihre Auslegung, war von Anfang an ein Teil der Bibel selbst.
Ein ebenfalls bedeutender Ausleger der Bibel war Martin Luther, der Paulus genau wegen seiner Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu Christi sehr mochte. In der Theologie des Paulus sah Luther diesen befreienden Gedanken, dass niemand sich durch seine Taten selbst erlösen kann oder muss. Dadurch erhielt Paulus zumindest im Protestantismus noch einmal eine riesige Bedeutung.
Das heißt freilich nicht, dass man "bedingungslos alles annehmen muss", was Paulus schreibt. Wie gesagt: Die Auslegung und auch die Abwägung gehört zur Bibel immer dazu. Ohne kritisches Hinsehen, gäbe es einen biblischen Kanon gar nicht.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen in Ihrer Frage weiterhelfen. Wenn Sie mehr zum spannenden Thema Biblischer Kanon lesen möchten, empfehle ich Ihnen zum Beispiel den Artikel von Karin Schoepflin über den Alttestamtlichen Kanon im Wissenschaftlichen Bibellexikon. Auch der Artikel Bibelkanon in Wikipedia ist recht hilfreich und enthält Hinweise zu weiterführender Literatur.
Herzliche Grüße
Frank Muchlinsky
P.S. Danke für das Lob.