Ist der Gott des Alten Testaments für Christ:innen noch relevant?

Hans-Joachim Münster
hebräischer Schriftzug Jahwe
©etty Images/boryak

Für mich ist der Gott, von dem Jesus spricht, nicht "Jahwe" des AT, sonder der "Vatergott". Er ist eben der wahre Gott. Insoweit ist auch das AT für Christen überholt, nicht relevant, wie auch Prof. Slenczka dies so sagt, im Übrigen auch viele Pastoren. Das hat nichts mit den "Deutschen Christen" zu tun.

Lieber Herr Münster,

Sie sprechen ein wichtiges Thema an: Wieso identifizieren ChristInnen den Gott, den Jesus „Vater“ nennt mit dem Gott des Alten Testaments, dessen Eigenname „JHWH“ ist? 

Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie bereits Ihren Weg gefunden, diese spannende theologische Frage zu beantworten. Für Sie ist (nur) der Vatergott Jesu „der wahre Gott“. Als christlicher Theologe, der sich mit dem Alten Testament beschäftigt, möchte ich Ihnen gerne ein einige Ansatzpunkte zu meiner Position geben und erklären, warum ich das entschieden anders sehe.

Zunächst ist es aus historischer Sicht unbestreitbar, dass Jesus von Nazareth als Jude seinen Gott vor dem Hintergrund der jüdischen Traditionen und Schriften gesehen hat. Er kannte die Heiligen Schriften Israels, er wusste, dass Gott sich seinem Volk als „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten, aus der Knechtschaft, geführt hat“ vorgestellt hat (z.B. in Ex 20,2). Der Gott, zu dem der Jude Jesus gebetet hat, war der Gott des Judentums.

Dass er ihn nun „Vater“ (aramäisch abba) genannt hat, entspricht der Frömmigkeit und Sprache seiner Zeit. Bereits in alttestamentlicher Zeit konnte der eine Gott auch als „Vater“ angesprochen werden (z.B. Weisheit 14,3). Auch die Anrede als „Unser Vater“ (z.B. Jes 63,16) war dem Volk Israel vertraut. Auch Paulus kannte diese Tradition (Gal 4,6).

Daran schließt Jesus mit seinem Gebet an, wenn er Gott ganz selbstverständlich „Vater“ nennt. Die Autoren der Evangelien, die nach den Osterereignissen schreiben, deuten dann ihre Gegenwart theologisch: Ihr Bekenntnis zur Auferstehung Jesu entspricht ihrer Überzeugung, dass Jesus Gottes Sohn war. Wenn die himmlische Stimme in Mk 1,11 also sagt: „Du bist mein geliebter Sohn“, dann verdeutlicht das die Vater-Sohn Beziehung. Dieses enge Verhältnis will Markus offensichtlich vor alttestamentlichem Hintergrund verstanden wissen: In Alten Testament, in Buch des Propheten Jesaja, als Gott „unser Vater“ genannt wird, soll der Himmel zerreißen (Jes 63,19). Als im Markusevangelium die Stimme aus dem Himmel ertönt, „zerreißt“ der Himmel ebenfalls (auch wenn das in vielen Bibelübersetzungen untergeht). Es ist also ganz deutlich: Der Gott, der zu Jesus spricht und zu dem Jesus betet, wird mit dem Vatergott der alttestamentlichen Texte identifiziert. Das Neue Testament ist ohne das Alte gar nicht wirklich verständlich.

Nicht nur in historischer oder biblischer Perspektive gibt es diese Kontinuität. Auch in der dogmatischen Entfaltung des christlichen Glaubens geht man von der Einheit des Gottes des Alten und Neuen Testaments aus. (Bereits das Apostolische Glaubensbekenntnis öffnet mit dem Glauben an "Gott, den Vater"). Die Thesen des Berliner Systematikers Notger Slenczka würden dem überhaupt nicht widersprechen. Ohne die Diskussion noch einmal neu aufzurollen: Slenczka hat sicher recht damit, wenn er sagt, dass in vielen Fällen kirchlicher Praxis das Alte Testament christologisch ausgelegt wird und oft vernachlässigt wird. Auch sind vielen ChristInnen einige alttestamentliche Passagen oder Elemente des Gottesbewusstseins fremd (Im Übrigen können auch einige neutestamentliche Aussagen über Gott heute befremdlich wirken!). Deswegen muss man aber noch lange nicht das Alte Testament oder "unpassende" Stellen aus dem Kanon streichen! Im Gegenteil: Ich finde, wir brauchen mehr Altes Testament in Kirche, Schule und Bildung. Das Alte und das Neue Testament gehören zusammen, weil sie religiöse Texte aus einer langen und sich verändernden Tradition enthalten. Diese Tradition ist die des einen Gottes, die beide Testamente bezeugen. Wir ChristInnen glauben, dass sich in Jesus dieser Gott als Mensch offenbart hat. Weil Jesus selbst zu diesem einen Gott gebetet hat, das Neue Testament Jesus mit diesem Gott in Beziehung setzt/mit ihm identifizieren kann (Joh 10,30) und ohne die alttestamentlichen Traditionen überhaupt nicht zu verstehen sind, wird das Alte Testament für ChristInnen niemals überholt sein.

Der Versuch, das Alte Testament für veraltet und durch Jesus/das Neue Testament abgelöst zu halten, weckt schnell Erinnerungen an das beschämende, antijüdische theologischen Denken der Vergangenheit, für das in den christlichen Kirchen kein Platz ist. Das haben viele TheologInnen zu recht an Slenczkas Thesen kritisiert, auch wenn man ihm sicherlich mit seiner Position keinen Antijudaismus unterstellen kann, was leider in der persönlich geführten Debatte schnell passiert ist.

Abschließend noch ein kurzer Gedanke: Alle Religionsgemeinschaften sind auf die Auslegung ihrer Traditionen angewiesen, die oft nicht eindeutig und nicht zu vereinheitlichen sind. Es gibt bleibende Widersprüche und Spannungen in den Texten des Judentums, Christentums und auch des Islams. Es gibt außerdem Elemente, die wir heute mit guten Gründen ablehnen (z.B. die Unterordnung der Frau) oder nicht mehr ausüben (z.B. Opfer).

Die Gottesvorstellung der alttestamentlichen wie neutestamentlichen Texte ist auch nicht einheitlich und ebenfalls nicht zu vereinheitlichen. Der Gottesname „JHWH“ wurde im Laufe der Zeit aufgrund seiner Heiligkeit durch „Adonaj/Mein Herr“ oder in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments durch „Kyrios“ ersetzt. Der eine Gott bleibt aber der eine Gott, der Gott des Volkes Israel, der Gott, zu dem Jesus gebetet hat, und den er „Vater“ genannt hat. Daran schließen christliche Kirchen weltweit an, wenn sie das „Vater Unser“ beten. Sie bekennen damit auch, dass ihre Wurzeln im Judentum liegen und christliche Kirchen untrennbar mit dem Judentum verbunden sind.

Ich hoffe, meine Perspektiven auf das Problem sind für Sie nachvollziehbar. Sicherlich gibt es noch viele weitere Argumente und Diskussionspunkte, die es zu studieren gibt. Wenn Sie dem gerne weiter nachgehen möchten, empfehle ich das folgende Buch zu dem Thema, das von einem Alttestamentler und einem Neutestamentler zusammen verfasst wurde: Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2. Aufl. 2017.

Herzliche Grüße

Helge Bezold

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