Hallo Herr Muchlinsky,
ich habe eine Frage, die ich hier und heute an Sie richten möchte.
Meine Frage ist diese: Johannes Calvin wird hin und wieder in Verbindung mit dem Kapitalismus gesehen. Warum? Calvin war ein Reformator so wie z. B. Martin Luther u. a. Was hatte Calvin mit Kapitalismus zu tun?
Mit großem Interesse erwarte ich Ihre Antwort auf meine Frage.
Herzliche Grüße
Susanne
Liebe Susanne,
Sie haben Recht: Johannes Calvin hätte sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, als "geistiger Vater des Kapitalismus" zu gelten. Dennoch wird er heute von einigen so gesehen. Doch das ist eine Meinung - es steht Menschen frei, sie zu haben und zu vertreten. Viele andere vertreten sie nicht - und alle haben ihre Gründe.
Es war vor allem ein Ökonom und Soziologe, der lange nach Calvin lebte, nämlich Max Weber (1864-1920), der Calvins Lehren "pro-kapitalistisch" deutete. Reformierten Protestanten haben nach Webers Auffassung eine «spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus» und begünstigen damit die Entwick,lung des Kapitalismus. Weber hatte beobachtet, dass sich der Kapitalismus in calvinistisch geprägten Ländern wie den Niederlanden, England und den USA, besonders früh und erfolgreich entwickelte. Das führte er auf einen theologischen Gedanken zurück, nämlich den der Gnadenwahl. Diese besagt, dass Gott in einem unabänderlichen Ratschluss einige Menschen im Vorhinein zum ewigen Heil erwählt und andere zur ewigen Verdammnis bestimmt hat. Ein Mensch erkennt, auf welche Seite er unabänderlich gehört, zum Beispiel durch seinen beruflichen Erfolg. Nur der Erwählte ist beruflich erfolgreich und kann durch harte Arbeit Gottes Ruhm vermehren. Gelungene Arbeit galt als ein Zeichen dafür, wonach der religiöse Mensch sein Leben lang strebt: "Gnadengewissheit".Calvin sah in seiner Vorherbestimmungslehre einen dreifachen Nutzen:Sie führe zu Gewissheit, Demut und Dankbarkeit. Diese drei gelten als reformiert-protestantische Tugenden.
Aber diese Deutung ist nur eine Seite der Medaille - und sie versteht bei Calvin nur das, was zur Thesenbildung für ein Wirtschaftsmodell führt. Es gibt auch einige Fakten in Calvins Biografie, die all das fördern: er war ein Arbeitstier - und er machte sich zum Beispiel Gedanken zum Umgang mit Zins.
Ich möchte mit einem Zitat schließen, das vielleicht zeigt, dass es lohnt, einmal näher auf Johannes Calvin zu schauen:
Gott will, daß ein Verhältnis und eine Gleichheit zwischen uns besteht, d.h. dass jeder mit dem Nötigen zu versorgen ist entsprechend dem Umfang seiner Mittel, so dass niemand zu viel und niemand zu wenig hat.
(aus: Calvini Opera 50,100f (Kommentar zu 2.Kor.8,13f)
Herzliche Grüße - auch im Namen von Frank Muchlinsky!
Veronika Ullmann