Subsidiarität ist ein Begriff der Sozialphilosophie und folglich kein Begriff aus der Theologie.
Außerdem ist Subsidiarität ein gesellschaftspolitisches Prinzip, nach dem übergeordnete, der Person fernere Einheiten z. B. der Staat, nur solche Aufgaben übernehmen sollen, die nicht von untergeordneten, der Person näheren Einheiten, besonders der Familie und den Verbänden, wahrgenommen werden können. Um das erreichen zu können, gehört es zu den Aufgaben der übergeordneten Instanzen, die untergeordneten zu unterstützen, vor allem finanziell, wenn die Aufgaben wider Erwarten doch nicht von der kleinsten Zelle, dem einzelnen Menschen, selbst gelöst werden können.
Innerhalb der evangelischen Kirche kommt es nun vermehrt zu evangelischen Vereinsbildungen von Privatpersonen. Jeder Mensch kann belieben einen Verein gründen. Zum Beispiel einen Förderverein. Es wird von "Subsidarität" gesprochen.
Wenn die Vereinsarbeit finanziell in die Hose geht, dann kommt die evangelische Mutterkirche mit dem großen Geldbeutel und ersetzt den Vereinskameraden, der ca 900 evangelischen Gemeinschaften, den Schaden. Wohin soll das führen? Gibt es einen Wegweiser?
Subsidiarität ist auch zentrales Element des ordnungspolitischen Konzepts also der sozialen Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Leitbild mit dem Ziel, „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft agierender freie Initiativen". Aufgrund dieser Fakten tun sich viele Fragen auf!
EKD und Wettbewerbswirtschaft?
EKD und Subsidiarität?
EKD und evangelische Vereine?
EKD und Sozialphilosophie?
EKD und gesellschaftspolitische Prinzipien?
Letzte Frage:
Der einzelne Mensch lässt folglich den "Karren" von der evangelischen Mutterkirche ziehen. Während der einzelne Mensch, die Zügel in der Hand hält. Genauer gesagt: Die Mutterkirche soll den Karren aus dem Dreck ziehen und den privaten Verein wieder in die Gewinnzone führen. Ist das eigentlich wirtschaftspolitisch zu verantworten? Was meint der kirchliche Finanz- und Wirtschaftsminister zu diesen Praktiken?
Gästin
Liebe „Gästin“,
ich habe Ihre Fragen an Pfarrer Patrick Roger Schnabel vom Evangelischen Institut für Kirchenrecht an der Universität Potsdam weitergeleitet. Er ist dort wissenschaftlicher Mitarbeitet und kennt sich in Sachen Subsidiarität bestens aus. Herr Schnabel hat mir umgehend geantwortet. Hier seine ausführliche Antwort für Sie:
Geehrte „Gästin“,Sie haben Recht, dass „Subsidiarität“ zunächst kein theologischer Begriff ist – wenn wir unter Theologie nur die Beziehung des Einzelnen zu Gott verstehen. Allerdings ist das vielleicht ein wenig zu kurz gegriffen. Denn der christliche Glaube sieht den Menschen immer in einer doppelten Gemeinschaft: Mit Gott und dadurch ermöglicht auch mit den anderen Menschen. Die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden ist unmittelbarer Ausfluss der Gottesbeziehung und ein Gegenbild zu einer Gesellschaft, in der der Mensch sich selbst der Nächste ist.
Daher gehört die Lehre von der Kirche, im Fachbegriff Ekklesiologie“, zum Kern der christlichen Theologie. Und in die Ekklesiologie wiederum gehört der Begriff der Subsidiarität. Die reformatorische Theologie hat ihn als Gegenbild zur hierarchisch von oben nach unten aufgebauten römischen Kirchenorganisation entworfen. Schon auf der Emder Synode wurde festgelegt, dass die Gemeinde als Basis der Kirche gilt und – wie Sie es richtig beschreiben – die oberen Einheiten nur dort zum Tragen kommen, wo die kleine Basiseinheit allein nicht mehr weiter kommt. Das ist allerdings niemals nur auf Finanzfragen bezogen gewesen, und es bedeutet auch keine Autonomie der kleinen Einheiten. Vielmehr ist jede Gemeinde nur insoweit Kirche, wie sie sich als Teil der Gesamtkirche versteht und auch vor ihr verantwortet. Daher gehört die Visitation von Anfang an zu den Grundsätzen evangelischer Kirchenordnung. Und natürlich gibt es immer schon viele Aufgaben, die besser im größeren Verbund wahrgenommen werden können.
Größere Bekanntheit hat das Konzept – und vor allem der Begriff – der Subsidiarität tatsächlich durch die katholische Soziallehre erhalten. Hier geht es, auch das haben Sie richtig beschrieben, um den Vorrang der kleinen Einheiten vor den großen, und auch freier, aus der Gesellschaft kommender Initiativen vor staatlichem Handeln. In gewisser Weise wird dabei tatsächlich der Mensch als die kleinste Einheit begriffen: aber auch hier nie isoliert. Der Mensch ist nur dadurch handlungsfähig, dass er in soziale Einheiten eingebunden ist – von der Ehe über die Familie bis zu Verbänden und der Kirche. Die Aufgabe der je größeren Einheit ist aber nicht die, Macht auszuüben oder eine Rundumversorgung zu garantieren, sondern den kleineren Einheiten bis hinunter zum Individuum möglichst viel eigenständiges Handeln zu ermöglichen.
Das Thema evangelischer Vereine gehört mittelbar in diesen Kontext. Als evangelische Landeskirchen und als EKD können wir natürlich nicht all das tun, was wünschenswert wäre. Wir müssen unsere Mittel und Kapazitäten effektiv und effizient einsetzen – und das heißt auch, darauf zu verzichten, manches zu tun. Wir freuen uns aber, wenn Menschen aus ihrer christlichen Motivation heraus sich solchen Aufgaben annehmen. Dazu gründen Sie Projekte, Arbeitsgemeinschaften, Vereine, Stiftungen. Diese haben aber mit der „verfassten Kirche“, also der Institution, rechtlich nichts zu tun. Das heißt auch, dass die Kirche für diese Vereine nicht haftet. Gelegentlich geht sie mit Privatinitiativen eine engere Verbindung ein: die Diakonie ist so ein Beispiel. Ursprünglich rein privat als Innere Mission gegründet, ist sie heute weitgehend als Werk der Kirche anerkannt. Allerdings gibt es auch hier sehr unterschiedliche Formen rechtlicher Zuordnung. Haftung ist immer nur dann möglich, wenn durch personelle Verschränkung – etwa in Vorständen und Aufsichtsräten – ein erhebliches Mitsprache- und Kontrollrecht für die Kirche gegeben ist. Das ist aber nur selten der Fall, meist existieren die Vereine und Initiativen selbständig und gehen nur Kooperationen mit der Kirche und ihren Untergliederungen ein. Dann tragen sie aber auch allein das volle Risiko ihrer Aktivitäten.
Die Kirche lässt sich also nicht „vor den Karren spannen“, aber natürlich ist sie daran interessiert, dass Menschen Eigeninitiative entwickeln. Je geringer ihre eigenen Möglichkeiten sind, alle Felder und Bereiche selbst abzudecken, desto wichtiger wird dieses Engagement. Stiftungen und Vereine sind da wichtige Partner der Kirche für einen christlichen Beitrag zur Gesellschaft.
Diese Ideen haben gewiss auch die Väter der Sozialen Marktwirtschaft inspiriert. Aber für dieses Thema verweise ich Sie dann doch auf die EKD-Denkschriften zum Thema (http://www.ekd.de/download/liste_denkschriften.pdf).
Mit freundlichen Grüßen
Pfr. Patrick Roger Schnabel
Ich danke Pfarrer Schnabel sehr herzlich für seine prompte Hilfe!
Mit freundlichen Grüßen
Frank Muchlinsky