Guten Tag,
eine Frage, die mich schon länger beschäftigt: Wieso berufen sich die Christlichen Kirchen immer auf Paulus?
Wer, außer er selbst, hat ihn zum Apostel gemacht? Schließlich kann jeder behaupten, ihm sei Jesus erschienen.
Selbst, wenn es so ist: Hat Jesus zu Lebzeiten etwas „vergessen“ den Menschen mitzuteilen? Wenn ja, warum konnte er das nicht dem Petrus oder einem der anderen Apostel offenbaren?
Vielen Dank für ihre Antwort
Lieber Herr S.,
Danke für eine spannende uns herausfordernde Frage! Um sie zu beantworten, müssen wir uns deutlich machen, wie das Neue Testament entstanden ist. Niemand hat mitgeschrieben, was Jesus sagte oder was er tat. Das macht auch Sinn, denn wer dabei war, rechnete nicht damit, dass es sich lohnen könnte, etwas aufzuschreiben. Jesus verkündete das Kommen des Reiches Gottes, also das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Darauf bereiteten sich alle, die ihm glaubten, vor. Das änderte sich auch nicht sofort nach dem Tod und der Auferstehung Jesu. Man ging davon aus, die Wiederkehr Jesu selbst noch zu erleben. Für wen also sollte man etwas aufschreiben? Paulus aber schrieb, nicht für die Nachwelt, sondern für die christlichen Gemeinden, mit denen er zu tun hatte. Er schrieb Briefe, in denen er seine Theologie darstellte und verteidigte. Die Briefe sind darum wesentlich älter als die Evangelien, die von Jesu Leben erzählen.
Als man merkte, dass die Zeit der Wiederkunft Christi länger und länger wurde, fing man an, nun auch Berichte zu verfassen über das, was einmal war. Aber da waren seit Ostern bereits fünfzig Jahre vergangen! Ebenso begann man, die vorhandenen Schriften auszuwählen. Die Verlässlichkeit der Zeugnisse spielte dabei eine große Rolle. Die Briefe von Paulus waren alt und stammten zum großen Teil tatsächlich aus seiner Feder. Das war und ist einzigartig. Seine Briefe sind das Nächste an Jesus Christus, das wir haben. Und was für eine Rolle spielt es, dass „nur“ er von sich behauptet, er sei Apostel? Er ist der einzige Zeuge der Bibel, der von sich selbst schreibt, dass er den auferstandenen Christus gesehen hat. Von Petrus wissen wir das nur aus dritter Hand, weil Autoren es ÜBER ihn geschrieben haben.
Darum spielt Paulus bis heute eine so große Rolle. Dass man seine Theologie durch die Aufnahme seiner Briefe in die Bibel auch sozusagen zur „allgemeingültigen“ Theologie machte, ist ein Nebeneffekt, den man bedauern kann. Paulus hat sehr kluge und hilfreiche Dinge geschrieben, aber in einigen Belangen ist er nun einmal ein Kind seiner Zeit gewesen, und trotzdem gilt sein Wort, als sei es das Wort Gottes selbst.
Herzliche Grüße!
Frank Muchlinsky