Mit welchem Verständnis der christlichen Inspirationslehre lesen Sie die Bibel?
Welche Möglichkeiten gibt es und wie unterscheiden sich diese (Verbalinspiration, Realinspiration, Personalinspiration, etc.)? Was würde einem Naturalisten möglicherweise entgehen, der zwar an der Bibel als historischem und philosophischen Dokument interessiert ist, allerdings die Auffassung ablehnt, dass die Bibel in irgendeiner Weise besonders "inspiriert" sei.
Ist eine Theologie ohne Inspirationslehre denkbar?
Lieber Martin,
Theologie betrachtet Glauben und Religion nicht von außen, sondern von innen. Das heißt: Wer Theologie betreibt, sieht sich als Teil der Glaubensgemeinschaft, deren Zeugnisse und Glaubensinhalte er oder sie untersucht. Insofern ist eine christliche Theologie ohne die Auffassung, dass es sich bei der Bibel um ein irgendwie heiliges Buch handelt, nicht denkbar. Dadurch unterscheidet sich die Theologie von der Religionswissenschaft, die Religion von außen betrachtet.
Die Betrachtung der Bibel als heiliges Buch setzt allerdings nicht zwangsläufig eine Inspirationslehre voraus, wie Sie sie aufführen. Auch Theologinnen und Theologen betrachten die Bibel mit literaturwissenschaftlichen und historisch-kritischen Methoden, um ihrem Gehalt noch besser auf die Spur zu kommen. Allerdings gilt für alle christliche Theologie, dass sie ihre Aussagen über Gott, den Glauben oder das Handeln der Gläubigen zuerst und hauptsächlich mit der Bibel begründet werden muss, denn die Bibel gilt als einziger Zugang zu Gott und zu seinem Willen. Diese Haltung nennt man "Schriftprinzip". In der sogenannten "Konkordienformel", einem der maßgeblichen protestantischen Lehrtexte, heißt es dazu:
"Wir glauben, lehren und bekennen, dass die einzige Regel und Richtschnur, nach der in gleicher Weise alle Lehren und Lehrer gerichtet und beurteilt werden sollen, alleine die prophetischen und apostolischen Schriften des Alten und Neuen Testaments sind … Andere Schriften aber alter und neuer Lehrer, welchen Namen sie auch immer haben, sollen der Heiligen Schrift nicht gleichgestellt, sondern ihr alle miteinander unterworfen werden, und sie sollen als etwas anderes nicht angenommen werden, als Zeugen dafür, in welcher Weise und an welchen Orten nach der Zeit der Apostel jene Lehre der Propheten und Apostel bewahrt wurde." (Formula Concordiae Epitome, Art 1. zit. nach: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh 31991, 871)
Inspiration bedeutet ja im Wortsinn, dass der (Heilige) Geist etwas eingibt. Wenn man dieses Verständnis etwas weitet, sollte man aus theologischer Sicht durchaus sagen: Wenn die Bibel das für unseren Glauben maßgebliche Zeugnis der Offenbarung Gottes ist, dann hat der Heilige Geist dort seine Finger im Spiel.
Sie fragen, was einem Menschen entgeht, der mit rein naturwissenschaftlichem Blick auf die Bibel schaut: Nun, aus theologischer Sicht entgeht ihm, was Gott uns sagen will. Aber danach sucht er ja auch nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Frank Muchlinsky