Liebe Frau Heu,
in den letzten Monaten bin ich häufiger über Beiträge auf Social Media von sogenannten "Christfluencern" gestolpert und habe mich folglich ein bisschen mit dem allgemeinen Thematik der CyberKirche beschäftigt. Hierbei sind mir doch einige Fragen in den Sinn gekommen, auf die ich bis jetzt noch keine eindeutige Antwort finden konnte. Ich würde mich sehr über Ihre Gedanken und Impulse zu diesem Thema freuen, auch neues Lesematerial ist sehr willkommen.
Hier also meine Fragen:
Inwieweit kann eine onlineKirche die Grundfunktionen der christlichen Kirche (Martyria, Liturgia, Diakonia,Koinonia) erfüllen? Werden christliche Online-Communities die Ortsgemeinden in Zukunft ersetzen können und was halten Sie persönlich von Christfluencer?
Vielen Dank und liebe Grüße
Annika
Liebe Annika,
vielen Dank für Ihre spannende Frage. Zunächst vorab: der Terminus "CyberChurch" scheint mir noch nicht einheitlich definiert worden zu sein, weshalb es gut ist, dass Sie in Ihrer Frage beschreiben, was Sie darunter verstehen.
Der erste offizielle Gebrauch des Begriffes im deutschsprachigen Raum stammt wohl von 1998 als die EKD ein Positionspapier genau zu diesem Thema "CyberChurch" veröffentlicht hat. Allerdings scheint mir die Verwendung hier eine ganz andere als ich den Begriff heute intuitiv verwenden würde. Denn auch "Christfluencer", wie Sie sie erwähnen, kommen 1998 nicht zur Sprache (die gab es ja damals auch noch gar nicht in der Form und Vielfalt wie es sie heute gibt). Hier finden Sie übrigens den Text der EKD. Hauptkritikpunkt des Papieres ist es m.E., dass vor der Gefahr gewarnt wird, nicht einfach Texte, die normalerweise in print erschienen wären, online zu publizieren und das dann als digitale Kirche oder CyberChurch zu bezeichnen. Zwar ist das ein Stück weit heute ganz normal (indem es zum Beispiel Gemeindebriefe vielerorts auch digital verfügbar gibt), aber es gibt, insbesondere durch Social Media auch einen abwechslungsreichen und vielseitigen Austausch über christliche und kirchliche Themen, wobei die Gemeinde miteinander in Austausch kommt. Beides finde ich gut - muss aber entsprechend gepflegt und gefördert werden. Es handelt sich dabei um keinen Selbstläufer.
Ich habe gezielt nach wissenschaftlichen Publikationen gesucht, die den Terminus "CyberChurch" verwenden und bin dabei auf ausgesprochen wenige Veröffentlichungen gestoßen. Leider ist keiner der Artikel, Aufsätze oder Bücher, die relevant sind, online verfügbar. Deshalb kann ich hier leider nichts verlinken. Termini, die eher verwendet werden und m.E. das abbilden, was Sie meinen, sind zum Beispiel "Digitale Kirche" oder "Kirche Online". Es scheint auch sprachliche Verschiedenheiten zu geben. Ich habe den Eindruck, dass "CyberChurch" eher im englischsprachigen Raum verwendet wird, während wir im Deutschen "digitale Kirche" oder "Internetkirche" vorziehen.
Damit bin ich auch bei meinem Eindruck angelangt, nach dem Sie ja konkret fragen. In Deutschland haben wir häufig ein Bild von Kirche, das von der europäischen Geschichte geprägt ist. Vielerorts, gerade in ländlicheren Gegenden, spielt die Pfarrperson noch eine zentrale Rolle in der Dorflandschaft. Mit weniger Gemeindemitgliedern, der Zusammenlegung von Gemeinden (im kath. verwendet man gern den Begriff "Pfarreiengemeinschaft") und deswegen mancherorts auch der Umfunktionierung von Kirchengebäuden, verändert sich dieses Bild und die Pfarrperson ist eben häufig nicht mehr das Gesicht des Dorfes, das jede*r kennt und auf dem Kirchplatz freudig strahlend oder voll Ehrfurcht grüßt. Wenn wir allerdings von diesem bewährten Verständnis und Bild ausgehen, wird es aufwendig, das in eine digitale Welt zu übertragen.
Anders ist es im anglophonen Raum - besonders in den amerikanischen Staaten. Kirche als Ausdruck von Rebellion, in Süd- und Lateinamerika das befreiungstheologische Ideal, in dem sich arme Menschen durch den Glauben von ihrer Armut "befreien" und die steigende Zahl der sog. "megachurches", die ganze Fußballfelder und Basketballstadien füllen, um gemeinsam Gott zu preisen. Kirche ist Ausdruck ganz unterschiedlicher, natürlich aber auch konservativer Ideale (v.a. in den Gegenden, die den aktuellen US-amerikanischen Präsidenten unterstützen). Die Motive, die ich zuerst nannte, würden wir in Deutschland eher Strömungen zuschreiben, die außerhalb der klassischen Landeskirchen angesiedelt sind. Es sind aber allgemein Motive, die uns in Europa lange Zeit eher fremd waren. Die Welle schwappte trotzdem über, traf hier jedoch auf die lange Tradition des Christentums und seiner Entstehung (für den Protestantismus war vor allem die Reformationszeit prägend).
Teil dessen, was überschwappt, ist wohl in den vergangenen 20 Jahren auch das Phänomen der CyberChurch - und damit zunehmend junge Amerikaner*innen, die ihre Gotteserfahrung mit der ganzen Welt teilen. Gott ist großartig - keine Frage! Christfluencer teilen dies über verschiedene Social-Media-Kanäle der ganzen Welt mit und machen sich so einen Namen. Das Motiv kennen wir aus dem Mittelalter, bloß, dass man sich damals auf eine Holzkiste stellte und die Frohe Botschaft in das städtische Treiben hinaus berichtete. Heute, in der Epoche der Postmoderne, lebt der Mensch im westlichen Ideal des Individualismus. Er stellt sich also nicht mehr auf eine Holzkiste in die Fußgängerzone und erzählt von seinen Gotteserfahrungen (mancherorts gibt es auch solche Erscheinung noch, aber meist werden sie von den Passanten nur schräg angeschaut und nicht beachtet). Einige Menschen leben allein, junge und alte, und viele, vor allem junge, fühlen sich im Internet sicherer. Man scheint nicht so unmittelbar der Hörerschaft ausgeliefert - ist es m.E. aber trotzdem. In der Sicherheit wägend werden intime Erfahrungen der eigenen Gottesbeziehung geteilt, in der Hoffnung natürlich einerseits anderen Menschen von der Herrlichkeit und Großartigkeit Gottes und der Frohen Botschaft zu erzählen (quasi zu missionieren), aber andererseits noch viel wichtiger, scheint es vielen Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erlangen. Das Internet und vor allem Social Media bietet dafür ganz neue Möglichkeiten.
Ob das funktionieren kann, fragen Sie in Ihrer Frage. Dafür möchte ich Melanchthon mit der von ihm verfassten Confessio Augustana, einem zentralen Text in der evangelischen Tradition, zu Rate ziehen. In Artikel VII, Von der Kirche, schreibt er Folgendes:
Artikel 7: Von der Kirche
Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden, wie Paulus sagt: "Ein Leib und ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe" (Eph 4,4-5).
Kirche macht also zweierlei aus: das reine Predigen des Evangeliums und das Reichen der Sakramente. Folgende Fragen gilt es dafür zu diskutieren:
- Wer erlangt wie die Autorität zum reinen Predigen des Evangeliums?
- Wie sollen/können die Sakramente, also z.B. das Brot beim Abendmahl oder das Wasser bei der Taufe, den Weg zum Gläubigen durch den Bildschirm hindurch finden?
- Entsteht dadurch ein tatsächliches Gemeinschaftsgefühl, wenn jede*r an seinem/ihrem Bildschirm zu Hause sitzt?
Antworten auf diese Fragen gibt es aus verschiedenen Richtungen dazu: natürlich kann man es so und so sehen. Ich glaube, dass sich die Kirche als gemeinschaftsstiftender Ort nie ganz ins Internet oder in einen virtuellen Raum verlegen lassen wird. Mir würde dann etwas fehlen; z.B. der Plausch mit älteren Gemeindemitgliedern, die ich sonntags beim Kirchenkaffee treffe (und sonst die ganze Woche über nicht), die nette Dame, die meist in der Kirchenbank hinter mir sitzt und so wunderbar singt oder der ältere alleinstehende Herr, der mir Tipps mit der Reparatur meines Fahrrades gibt, welches ich immer vor der Kirche parke. Natürlich ist das nicht überall so, aber wenn sich Kirche allein in den digitalen Raum verlagert, sinkt zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass es zu solchen Begegnungen kommt und ich würde dann vielleicht nach den weisen Erfahrungen älterer Menschen googeln, ein Konzert besuchen (um tollen Gesang zu hören) oder mein Fahrrad in eine Fahrradwerkstatt bringen, anstatt es selbst zu reparieren.
Ich hoffe, Sie können von meinen Ausführungen etwas mitnehmen und finden neue Gedankengänge.
Viel Erfolg dabei.
Pia Heu