Wenn unser Vater schon genau weiß, was wir brauchen, bevor wir ihn bitten (Matthäus 6,8), warum muss ich ihn dann überhaupt noch beten?
Liebe Frau Pelka,
als ich Ihre Frage las, stockte mir der Atem. Tatsächlich wäre die Antwort korrekt: Du musst nicht mehr beten, dein Vater weiß, bevor du es sagst, was du brauchst. Das ist ähnlich wie zwischen uns Menschen: Personen, die einander sehr vertraut sind, können wortlos kommunizieren. Manche Wünsche zeichnen sich in der Mimik ab, unausgesprochene Botschaften schwingen im Gespräch mit. Es gibt eine wohltuende Atmosphäre, in der man ohne Worte kommuniziert und einander versteht. Ich gehe davon aus, dass der christliche Glaube von einer solchen wortlosen Verständigung lebt. Der Glaube ist so ein ein stilles Einvernehmen zwischen Gott und Mensch. Aber: Auch das Selbstverständliche muss man – selbst dann, wenn man sich perfekt versteht – in Worte fassen, dann erst wird deutlich, worum es genau geht. Was sich atmosphärisch in zwischenmenschlichen Beziehungen eingespielt hat, hat natürlich auch mit einem Gespräch begonnen. Kennenlernen, Vertrauen aufbauen, geknüpfte Beziehungen vertiefen, ist der Anfang. Wortloses Verstehen hat also einen langen Vorlauf. Auch das ist Glaube: Wort und Vertrauen, das sich aufbaut und in Worten fassbar und in Gedanken gründlich formuliert sein will. Wer betet, sucht nach Worten und spricht dann auch aus, was sich eigentlich schon von selbst verstehen sollte. Im Gebet trage ich Gott vor, was der schon viel besser weiß. Ich gehe davon aus, dass Gott grundsätzlich tiefer blickt, als ich selbst in andere Menschen und in mich selbst hineinsehen kann. Trotzdem klärt das gesprochene Wort im Gebet den Status der Beziehung.
Ihre Frage bleibt bei einem einzelnen Bibelvers stehen. Ihre Frage ist aber nur im etwas größeren Kontext des gesamten Bibeltextes zu beantworten. Jesus will keine plappernden Menschen, er führt hier – mitten in der Bergpredigt (Matthäus 6,5-15) – das Vaterunser ein. Darauf zielt der Satz, den Sie herausgreifen. Das Vaterunser fasst in denkbar knappster Form zusammen, was ein Mensch zum Leben benötigt. Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig. Alles, worum gebeten wird, ist elementar und im Leben unentbehrlich. Und man kann immer auch sagen: Gott weiß das doch alles, er weiß es schon lange, warum darum bitten? Trotzdem: Das Selbstverständliche braucht auch Worte, damit die Atmosphäre voller Vertrauen sich aufbaut und erhalten bleibt. Mir persönlich tut es gut, mit Gott im Gespräch zu sein und die Atmosphäre, die der Glaube schafft, auch mit Leben und Worten auszufüllen.
Herzlich grüße ich Sie, Ihr Henning Kiene