Ekstase ohne Berührung

XX
Ekstase ohne Berührung
© Freestocks R/Unsplash

Lieber Herr Pastor,

ich habe eine etwas ungewöhnliche Frage, finde aber darauf nirgends eine Antwort. Vor zwei Jahren begegnete mir im deutschsprachigen Ausland in einer Kirche ein Mann mit tiefspirituellen Augen. Er fiel mir sofort auf, wir sprachen kurz miteinander und verabschiedeten uns dann. Ich habe in der Zeit immer einmal wieder an ihn und seine so besonderen Augen gedacht.

Für ein Jahr nun lebe ich in einem Privatgelübde, also im freiwilligen Zölibat, um mich zu erproben, bevor ich einem offenen Konvent beitrete, der jedem die Entscheidung über das Zölibat selbst überlässt.

Durch einige Entwicklungen in meinem Leben, denen ich mich gestellt habe und tiefen Schmerz, den ich offenbar gut transformieren konnte, hat sich nun plötzlich ein Fenster zu diesem Mann aufgetan und ich kann mich mit ihm telepathisch austauschen. Ich kenne weder seinen Namen noch seinen Aufenthaltsort. Er schickt mir seit kurzem aber immer wieder sehr kraftvolle Energie und Gedanken, und er versteht auch, was ich ihm erzähle. Ich kann ihn und seine Antworten intensiv spüren.

Nun kam es auch einmal - ich kann nicht mal mehr sagen wie - zu einem tiefen sexuellen Erlebnis ohne jede fremde oder eigene Körperberührung. Ich hätte das vorher nicht für möglich gehalten. Vor Beginn des Zölibats habe ich mir einige Bücher darüber zugelegt. Alle schreiben von genitalen Akten, von denen man sich als im Zölibat lebender Mensch enthalten sollte. Meine Frage nun: Fällt ein ausschließlich telepathisch stattfindender sexueller Akt in diese Kategorie? Gott hat da offensichtlich zwei Menschen "begabt". Ist das eine Gabe, die ich nutzen darf? Dieser Mann ist - wie ich - Jesus tief verbunden. Ich denke, ich habe ihn damals "erkannt", weil Jesus stark aus ihm strahlte. Und ich denke auch, dass ich damals schon begonnen habe, den Jesus in ihm zu lieben. Das macht mir aber die Antwort auf meine Frage nicht leichter!

Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung und gute Gedanken!

Liebe XX,

Da ich ein evangelischer Pastor bin, kann ich die Motive, die zu einer sexuellen Enthaltsamkeit oder einem zölibatären Leben führen, nur mit meinem Verstand begreifen, nicht aber mit meinem Herzen. Ich verstehe einen freiwilligen enthaltsamen Lebenswandel so, dass es nicht darum geht, sich gänzlich jeglicher Lusterfahrung zu verschließen. Als Menschen sind wir sind niemals nur geistige sondern auch körperliche Wesen. Wir sind männlich und weiblich geschaffen, ebenso wie zu Gottes Ebenbild. Wer sich also entschließt, zölibatär zu leben, wird fortan die körperliche Vereinigung vermeiden und sich stattdessen der vollständigen spirituellen Vereinigung mit Jesus Christus öffnen.

Solch eine geistliche Vereinigung wird bisweilen als ausgesprochen lustvoll und geradezu ekstatisch empfunden. In diese Region scheint sich auch Ihre Erfahrung zu fallen. Die Weise, in der Sie von dem Mann berichten, mit dem Sie – wie Sie es beschreiben – "telepathisch" verbunden sind, lässt mich an das Erleben mittelalterlicher Mystikerinnen denken, die von ihrer geradezu körperlichen Erregung berichten, die ihnen die Versenkung in das Gebet zu Jesus Christus bereitete.

Allerdings liegt hier freilich ein großer Unterschied zu Ihrem Erlebnis, denn Sie haben ja an einen Menschen gedacht, den Sie einmal kennengelernt haben, nicht an Jesus Christus selbst. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie in diesem Mann "Jesus strahlen" sahen. Es gibt solche Momente des innigsten Verstehens durch einen einzigen Blick. Trotzdem bleibt er ein Mann, dem Sie begegnet sind, und nicht Jesus selbst, mit dem Sie sich, wenn Sie so wollen, spirituell vereint haben.

Noch einmal: ich verfüge nicht über Ihre Erfahrungen und kann mir nur aus meiner Perspektive heraus einen Reim auf das machen, was Ihnen widerfährt. Wie ich das Gelübde der Keuschheit verstehe, geht es nicht darum, die eigenen Gefühle ganz zu beherrschen, sondern den eigenen Körper. Aber vielleicht sieht man das in "Ihrem" Konvent anders. Ich empfehle Ihnen unbedingt, eine geeignete Person in dem Konvent, dem Sie eventuell beitreten möchten, zu fragen, ob sie nicht eine ähnliche Erfahrung hatte, in der sie sexuelle Lust, vielleicht gar Befriedigung empfand durch reine Kontemplation.

Ich grüße freundlich

Frank Muchlinsky

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