Was soll ich glauben?

Ulf Hackler
Was soll ich glauben?
© Prottoy Hassan/Unsplash

Lieber Pastor Muchlinsky,

oft stelle ich fest, dass der Glaube von evangelischen Christen sehr stark voneinander abweicht. Nehmen wir auf der einen Seite das "evangelikale" Spektrum, auf der anderen Seite das "liberale". Viele Glaubensüberzeugungen der jeweiligen Seite sind mit denen der anderen schlichtweg nicht kompatibel. Ich persönlich schwanke zwischen den verschiedenen Positionen hin und her und habe häufig den Gedanken "Wenn jener recht hat, dann liegt dieser völlig falsch." Dies treibt mich insbesondere um im Hinblick auf Wunder, Auferstehung, Inspiration der Schrift und Exegese. Die Kirche selbst scheint sich hier nicht klar zu positionieren - wahrscheinlich um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Ich habe größte Schwierigkeiten meinen Platz zu finden, da ich immer "zwischen den Stühlen" stehe. Häufig erlebe ich eine schreckliche Ignoranz von evangelikaler Seite, welcher eine schreckliche Überheblichkeit der anderen gegenüber steht. Viele Aussagen von konservativer Seite machen mir nicht nur Angst, sondern erfüllen mich gleichermaßen mit Wut und Abscheu (Homosexualität, Sünde, Frauenbild etc.), Erklärungsmodelle vieler Theologen hingegen beziehen sich oftmals nicht auf die Bibel, sondern scheinen einem säkularen Geist Rechnung zu tragen und scheinbar wichtige biblische Aspekte werden mit einem Lächeln uminterpretiert. Diese Umstände verunsichern mich zutiefst und ich fühle mich dadurch in einem Glaubensdilemma. Haben Sie eine Idee, wie ich dies überwinden kann? Können Sie mir bei meinem Problem helfen?

Herzlichen Dank im Voraus!

Lieber Herr Hackler,

 

Ihre Feststellung ist vollkommen richtig, dass der Glaube evangelischer Christinnen und Christen nicht einheitlich ist, sondern sich sehr voneinander unterscheidet. Man könnte es ein Markenzeichen des Protestantismus nennen, dass wir innerhalb unseres gemeinsamen Bekenntnisses so große Unterschiede zulassen. Die evangelische Kirche wird schließlich nicht zentral verwaltet, und Dogmen werden in der evangelischen Kirche mittlerweile nicht mehr formuliert.

 

Andererseits spielt bei diesen großen Unterschiedenen in der Frömmigkeit auch das Individuum eine entscheidende Rolle. Darum können Sie sicher sein, dass es auch in der katholischen Kirche nicht mindergroße Unterschiede in den Glaubensüberzeugungen gibt. Beide Kirchen positionieren sich durchaus deutlich zu den von Ihnen genannten Themen, aber was die einzelnen Christinnen und Christen glauben, wird immer unterschiedlich bleiben. Wenn Sie sich gern an dem orientieren möchten, was die Evangelische Kirche in Deutschland zu einzelnen Themen sagt, empfehle ich Ihnen die Lektüre entsprechender Denkschriften. In diesen Schriften positioniert sich die Evangelische Kirche in Deutschland zu vielen Themen sehr ausführlich. Darüber hinaus gibt es auch sogenannte EKD-Texte zu verschiedensten Themen. Manchmal äußert sich die EKD auch zu bestimmten Fragen der Bibelauslegung, die Sie ja in Ihrer Frage auch erwähnen. Zum Beispiel gibt es einen EKD-Text zum Thema Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie und eine Orientierungshilfe zum Thema Familie, von der Sie vielleicht schon gehört haben, weil sie ausgesprochen kontrovers diskutiert wurde. In dieser Orientierungshilfe gibt es einen Abschnitt, der beispielhaft vorführt, wie innerhalb der evangelischen Kirche derzeit Bibelauslegung betrieben wird. Ich empfehle Ihnen die Lektüre dieses Abschnittes sehr. Sie werden beim Lesen feststellen könne, dass es um das Abwägen unterschiedlicher biblischer Zeugnisse geht, und wie argumentiert wird, sich für die eine oder die andere Auslegung der Bibel zu entscheiden. Dieses Vorgehen ist nichts Neues oder Modernes. So ist das Christentum mit der Bibel immer schon umgegangen, aber die EKD macht es hier eben anschaulich vor, und Sie können lesen, welche Schlüsse gezogen werden.

Was die EKD veröffentlicht, ist also so etwas wie der Common Sense der Evangelischen Kirche. Das heißt aber nicht, dass alle evangelischen Christinnen und Christen so denken. Da Menschen dazu neigen, ihr Missfallen deutlich lauter zu formulieren als ihre Zustimmung, kommt es in der öffentlichen Wahrnehmung manchmal dazu, dass der Eindruck entsteht, die Kirche sei zerstritten oder uneinig. Dabei sind es in der Regel lediglich kleine aber laute Gruppen, die sich gegen eine ihrer Meinung nach zu liberale Auslegung wehren. Sie erwähnten das sogenannte evangelikale Spektrum ja bereits selbst.

Die Lautstärke ist aber auch an anderen Rändern des Spektrums höher als in der Mitte, weil es eben als interessanter wahrgenommen wird, wenn "die Fetzen fliegen". Wenn Theologinnen und Theologen die Auferstehung Jesu so deuten, dass sie ihren Zweifel an einer leibhaftigen Auferstehung äußern, dafür aber andere Erklärungen liefern, so interessiert sich in kürzester Zeit niemand mehr für die Erklärung, sondern lediglich dafür, dass eine Theologin oder ein Theologe gesagt hat: Er ist gar nicht auferstanden.

Wenn Sie sagen, dass Sie sich "zwischen den Stühlen" fühlen, dann kann ich Ihnen sagen: ja, so geht's mir auch. Und ich bin sicher, dass es der überwiegenden Mehrheit der Christinnen und Christen in Deutschland so geht, weil wir uns an den Rändern nicht wohlfühlen und gleichzeitig meinen, dass da die Stühle stehen. Das ist meiner Überzeugung nach aber eine falsche Wahrnehmung. Christsein heute sollte bedeuten, sich als Christ:in offen für neue Gedanken zu zeigen und gleichzeitig den eigenen Glauben zu bewahren. Das geht nicht ohne Anstrengung und manchmal auch mit solchen Gefühlen, wie Sie sie beschreiben, dass man nirgends mehr richtig Platz hat. Der Glauben existiert nicht ohne die Person, die mit ihm lebt. Weil wir uns aber ebenso ändern wie alles andere Lebendige, und weil sich unsere Welt ebenso verändert, ist auch unser Glaube gefordert, sich ändern zu können. Wenn der Glaube starr bliebe, müsste er zwangsläufig irgendwann brechen, weil sich alles um ich herum ändert.

Glauben Sie weiterhin an die Auferstehung und daran, dass die Bibel von Gottes Offenbarung zeugt! Aber fragen Sie sich immer wieder, was Sie damit meinen. Das ist übrigens mit anderen Menschen zusammen viel leichter als allein. Wenn man über den eigenen Glauben redet und hört, was andere zu sagen haben, wird der Glaube besser bearbeitbar, wie Knete, die erst durch Körpertemperatur formbar wird.

Ich wünsche Ihnen alles Gute und hoffe, dass meine Ausführungen Ihnen deutlich machen konnten, dass zwischen den Stühlen die Mitte sein kann.

Mit herzlichem Gruß

Frank Muchlinsky

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