Müssen Frauen dem Mann untertan sein?

Marie
Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Bibelauslegung
©Getty Images/iStockphoto/RoBeDeRo

Hallo,

ich bin echt am Verzweifeln mit meinem türkischen Freund. Ich kann seine Kultur nicht so akzeptieren. Dieses Bild einer Frau, was sie für Aufgaben hat usw. Ich finde, das ist Unterdrückung. Jetzt habe ich mal im Internet geschaut und die Stellung der frau in der Bibel nachgelesen (ich bin evangelisch) und wollte sie fragen: Ist das wirklich so, dass eine Frau sich unterordnen muss? Ich dachte, alle sind gleichberechtigt und gleichwertig. Warum soll der Mann über der Frau stehen? Ich komm mit sowas gar nicht mehr klar, weil mein muslimischer Freund mir das alles so negativ in den Kopf gesetzt hat

Liebe Marie,

 

es tut mir leid, dass Sie mit Ihrem Freund solche Auseinandersetzungen haben. Ihr Konflikt ist im Grunde genommen nicht einer darüber, was in der Bibel oder im Koran steht, sondern es hängt an der Frage, wie man Bibel oder Koran auslegt. Was die Bibel und der Koran über Frauen und Männer sagen, ist vor vielen hundert Jahren aufgeschrieben worden, in einer Zeit, in der von einer Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen noch überhaupt nicht die Rede war. Die Schriften entstanden in einer Zeit, in der es ganz klar war, welche Rollen Frauen und Männer auszufüllen hatten. Einerseits sind Männer und Frauen in der Bibel "gleichwertig", wie Sie ja auch schreiben. Männer sind nicht mehr wert als Frauen, beide sind Gottes Geschöpfe und seine Ebenbilder. Im ersten Schöpfungsbericht werden beide zusammen geschaffen. In 1. Mose 1,27 heißt es: "Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau." Keiner von beiden ist also mehr wert, als der andere.

 

Aber bereits im zweiten Schöpfungsbericht, also in der Geschichte vom Garten Eden mit Adam und Eva, sieht das schon anders aus: Hier wird berichtet, dass Gott erst den Mann schafft, und später die Frau als sein "Gegenüber", Luther übersetzt das hebräische Wort sogar als "Gehilfin". Und als es dazu kommt, dass beide vom Baum der Erkenntnis essen, was Gott ihnen ja verboten hatte, müssen Mann und Frau entsprechende Konsequenzen tragen. Eine davon lautet für die Frau: "Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein." (1. Mose 3,16) Da haben wir zum ersten Mal diese ganz klare Ansage, dass zwar Mann und Frau "gleichwertig", aber anscheinend nicht "gleichberechtigt" sind.

 

An der Tatsache, dass so etwas in der Bibel steht, kommen wir nicht vorbei, aber nun kommen wir zu dem, was ich am Anfang schrieb. Die Bibel ist für uns Christinnen und Christen keine Handlungsanweisung, die wir wörtlich befolgen. Das ist eine sehr wichtige Tatsache. Das Christentum hat das, was in der Bibel steht, immer und zu allen Zeiten ausgelegt, es sozusagen in die eigene Zeit übersetzt. Die Bibel ist darum kein Gesetzbuch, sie ist auch nicht eine göttliche Offenbarung. Sie berichtet von göttlichen Offenbarungen. Das bedeutet auch, dass sie viele Ungereimtheiten und Widersprüche enthalten kann. Und es bedeutet auch, dass bestimmte Vorschriften nicht mehr gelten, weil wir die Offenbarung, von der die Bibel spricht, so übersetzen, dass wir sie verstehen können.

 

Darum kann man fragen: Was gilt nun? Mann und Frau sind beide gleich geschaffen von Gott? Oder die Frau soll sich dem Mann unterordnen? Um das zu entscheiden, müssen wir schauen, was denn die Grundaussagen der Bibel sind, die unseren Glauben wirklich ausmachen. Christinnen und Christen hoffen auf das Reich Gottes. Eines Tages, so sagt unser Glaubensbekenntnis, wird Gott so über die Welt herrschen, dass es kein Leid, keinen Krieg, keine Gewalt mehr geben wird. Wir hoffen darauf, dass eines Tages aus Tod Leben wird und aus Ungerechtigkeit Gerechtigkeit. Aus Weinen wird Lachen und so weiter und so fort. Weil wir daran glauben, weil wir darauf hoffen dürfen, sollen wir in dieser Welt uns bereits so verhalten, als sei es schon so weit. Wir sollen das Leben schützen, wir sollen Tränen trocknen und Frieden stiften. Und wir sollen uns für die Gerechtigkeit einsetzen. Das bedeutet auch Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Wer auf Gottes Gerechtigkeit hofft, kann nicht gleichzeitig Frauen ungerecht behandeln.

 

Ich hoffe, Sie verstehen, wie ich hier argumentiere: Ja, die Bibel schreibt auch davon, dass der Mann über der Frau steht, aber diese Aussage wird klein vor dem Hintergrund, dass alle Menschen gleich sind und wir für Gerechtigkeit sorgen sollen. Ich weiß nicht, ob Ihnen meine Argumentation mit Ihrem Freund hilft, denn es kommt – wie gesagt – darauf an, wie man Bibel und Koran auslegt. Wenn Ihr Freund der Ansicht ist, dass die Vorschriften seiner heiligen Schrift nicht zu interpretieren sind, sondern lediglich zu befolgen, dann sind meine Argumente sicherlich nicht sehr hilfreich. Dann sollten Sie gemeinsam schauen, ob Sie sich auf einer Ebene treffen können, auf der Sie beide gut stehen können.

 

Herzliche Grüße

Frank Muchlinsky

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