Muss ein Christ vergeben können?

H.
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Lieber Herr Muchlinsky,
erst einmal muss ich ein wenig ausholen.
Als Kind, Jugendliche und junge Erwachsene habe ich ziemlich unter meinem Vater gelitten. Es ist bis heute ein sehr ambivalentes Verhältnis. Die Fehler, die er gemacht hat, haben mich geprägt. Trotzdem war und bin ich immer auf der Suche nach einem inneren Frieden, nach Versöhnung, die in meinem Herzen zu spüren ist. Vor zwei Jahren bekam mein Vater seine Krebsdiagnose, es schien, als blieben ihm nur wenige Monate. Seit kurzem ist klar, dass mein Vater nun bald sterben wird. Auch schon vor der Diagnose von vor zwei Jahren stockte ich immer an der Stelle des Vaterunsers "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Und ich fragte mich, ob ich dieses mitbeten kann und ob es nicht dazugehört, dass "die Schuldiger" ihre Schuld sehen und evtl. bereuen. Wahrscheinlich ist die Vergebung unabhängig davon möglich und auch nötig? Was aber, wenn es einem nicht gelingt, zu vergeben? Oder wenn es mir erst nach dem Tod meines Vaters gelingt? "Muss" man als Christ oder Christin vergeben?
Ich spüre eine unendliche Trauer, schon jetzt, eine unsägliche Angst vor dem Sterben, das ich (zusammen mit meinen Geschwistern und meiner Mutter) werde begleiten müssen. Es scheint, als helfe mir mein (vielleicht zu zarter Glaube) nicht dabei, dies besser durchzustehen. Ich hoffe, dass ich meinen Vater gehen lassen kann, in Liebe und ohne Groll. Haben Sie eine Idee, wie ich dieses erreichen kann?
Ganz herzlichen Dank im Voraus.
H.

Liebe H.,

Sie machen in der Tat gerade eine Menge durch. Den eigenen Vater beim Streben zu begleiten, ist schon schwer genug. Dass Ihr Vater Ihnen gegenüber Schuld trägt, macht diesen Abschied mit Sicherheit noch viel schwerer. Ich kann außerdem gut nachvollziehen, wenn Sie schreiben, dass Sie Ihrem Vater schlecht vergeben können, wenn der nicht einmal seine Schuld erkennt, geschweige denn um Vergebung bittet.

Wenn wir im Vaterunser beten: "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern", dann wird tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der Vergebung Gottes und der Vergebung von uns Menschen untereinander hergestellt. Jesus spricht immer wieder von diesem Zusammenhang: Vergebt, so wird euch vergeben (Mt 6,14, Lk 6,3). Insofern kann man sagen, dass Christen tatsächlich verzeihen sollen. Ihre Frage aber lautet: "Müssen" wir verzeihen? In diesem Wort steckt ein schrecklicher Zwang, weil immer eine Konsequenz in dem Wort "muss" steckt. Ich muss verzeihen, oder sonst …

Unser Glaube beruht auf dem Vertrauen darauf, dass Gott uns unsere Fehler verzeiht. Dass Gott unendlich viel besser im Verzeihen ist als Menschen, macht Jesus auch immer wieder in seinen Gleichnissen deutlich. Als der "verlorene Sohn" nach Hause zurückkehrt, ist sein Vater überglücklich. Er verzeiht ihm sofort und richtet gleich noch ein Fest für ihn aus. Der ältere Bruder des jungen Mannes reagiert aber ganz anders. Er weigert sich, zum Fest zu gehen und seinem Bruder zu verzeihen, was er getan hat. Gott verzeiht wie dieser Vater. Wir Menschen sind wie der ältere Bruder. Uns fällt es extrem schwer zu vergeben. Und dabei macht es der jüngere Bruder seiner Familie ja noch leicht, denn er bekennt sich zu seiner Schuld – anders als Ihr Vater das tut.

Nicht verzeihen zu können ist also eine ausgesprochen menschliche Angelegenheit. Wenn Jesus uns dazu auffordert, für unsere Feinde zu beten, also für die zu beten, die uns Leid angetan haben und nicht bereit sind, das einzusehen, dann schwingt darin mit, dass er versteht, wie schwer es uns fällt. Wer nicht selbst verzeihen kann, soll wenigstens für seine uneinsichtigen Schuldiger beten. Vielleicht ist das der Weg für Sie, dass Sie für Ihren Vater beten, dass Gott ihm vergibt, was Sie selbst nicht vergeben können. Wir Menschen haben unsere Grenzen. Gerade darum wenden wir uns im Gebet an Gott und bitten darum, dass Gott hinter unseren Grenzen weitermachen möge.

So wie wir sterbende Menschen in Gottes Obhut befehlen, so können wir es auch mit ihrer Schuld uns gegenüber tun. Ich habe den Eindruck, dass Sie Ihrem Vater gern vergeben würden, wenn er Ihnen Anlass und Gelegenheit dazu geben würde. In diesem Wunsch von Ihnen steckt schon sehr viel von dem, was von uns verlangt ist. Es kann sein, dass Ihr Wunsch nach einer Versöhnung noch vor dem Tod Ihres Vaters nicht erfüllt wird. Wenn das so kommen sollte, dann legen Sie Ihren Vater – zusammen mit allem, was offen geblieben ist zwischen Ihnen – vertrauensvoll in Gottes Hände.

Gott schenke Ihnen viel Kraft und den inneren Frieden, den Sie sich wünschen!

Ich grüße Sie herzlich!

Frank Muchlinsky

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